Nachhaltigkeit: ein integrierter Managementansatz

Wer Nachhaltigkeit bisher mehr als «Add-on» oder ein Marketing-Instrument genutzt hat, wird es in naher Zukunft damit schwerer haben. Die Regulierungsdichte nimmt zu und betrifft immer mehr Unternehmen. Und diese müssen Rechenschaft darüber ablegen, wie nachhaltig sie tatsächlich unterwegs sind.

Stephan Lienin von Sustainserv: «Viele Unternehmen haben mehr in Sachen Nachhaltigkeit zu bieten, als ihnen bewusst ist.» © zVg / Therefore GmbH, Zürich
Stephan Lienin von Sustainserv: «Viele Unternehmen haben mehr in Sachen Nachhaltigkeit zu bieten, als ihnen bewusst ist.» © zVg / Therefore GmbH, Zürich

Wer es ernst meint mit der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen, erkennt schnell: So trivial ist das Ganze nicht. Es reicht nicht, einfach nur Photovoltaikanlagen aufs Dach zu montieren oder auf Elektroautos umzustellen. Nachhaltigkeit, oder von der Finanzbranche herkommend immer mehr auch ESG genannt, muss ganzheitlich angegangen werden und benötigt nicht selten auch Beratung von aussen. Ein Beratungsunternehmen, das sich schon seit über 20 Jahren mit nachhaltiger Wirtschaft und allem, was dazugehört, befasst, ist Sustainserv. Dieses Unternehmen ist 2001 als Spin-off des ETH-Bereichs PSI mit dem Anspruch angetreten, beim Thema Sustainability eine Brücke zwischen Forschung und der Praxis zu bauen. Recht schnell wurde daraus ein pragmatischer und praktischer Beratungsansatz «mit viel Bodenhaftung», wie Managing Partner Stephan Lienin im Gespräch erläutert.

Herr Lienin, wo liegen derzeit die Schwerpunkte Ihrer Beratungstätigkeit? Ich könnte mir vorstellen, dass aufgrund des zunehmenden regulatorischen Drucks die Kunden Ihnen die Türen einrennen?

Stephan Lienin: Mit abstrakten Ideen lässt sich beim Thema kein Kunde halten. Am liebsten begleiten wir Kunden auf ihrer Nachhaltigkeitsreise, einige davon seit 20 Jahren. Aber zu Ihrer Frage: Wir verfolgen einen ganzheitlichen Ansatz, um das Thema Nachhaltigkeit anzugehen. Wir können also strategische Fragen wie auch die Umsetzung und das Reporting gleichermassen abdecken. Die Nachfrage dafür ist gross. Unsere Herausforderung ist, dass wir kein Anbieter von Software sind. Das heisst, wir können uns nicht einfach über Nacht verdoppeln. Wir müssen also organisch und mit Qualität wachsen. Und bei der wachsenden Zahl an Vorschriften müssen wir uns auch auf unseren Kern besinnen: Wenn Nachhaltigkeit ganzheitlich betrachtet wird, kann sich dies für das Unternehmen lohnen und gleichzeitig der Umwelt und der Gesellschaft dienen. Wir wollen eine Zukunft gestalten, in der nachhaltige Wertschöpfung die Norm ist.

Wenn Sie nun im Kontakt mit den Kunden sind: Erfolgt da zuerst eine Problemanalyse oder hat der Kunde gleich eine konkrete Fragestellung?

Meistens kommen Kunden mit einem konkreten Bedarf auf uns zu, derzeit oft, um die gesetzlichen Pflichten umzusetzen. Oder sie benötigen eine Wesentlichkeitsanalyse, Unterstützung beim Reporting oder der Erstellung einer CO2-Bilanz. Im weiteren Verlauf bringen wir dann gerne eine Gesamtschau ein, woraus dann auch eine andere Sicht entstehen kann als jene, die der Kunde zu Beginn hatte. Im Moment ist der Markt ziemlich «aufgeregt», weil aufgrund der neuen Regulierungen viel Unsicherheit herrscht. Hinzu kommt, dass auch viele Vorurteile die Runde machen. Da ist es hilfreich, zu Beginn aufklärend und beruhigend zu wirken und den ganzen Kontext zu erläutern.

Wie Unternehmen das Nachhaltigkeitsthema angehen, darüber haben Sie in Zusammenarbeit mit der Universität Bern kürzlich eine Studie veröffentlicht. Die Erfüllung von Compliance-Vorschriften wird von den Befragten als oberste Priorität gesehen. Inwiefern lässt sich daraus folgern: Schweizer Unternehmen reagieren erst auf Druck, obwohl das Nachhaltigkeitsthema und der Handlungsbedarf ja schon lange angezeigt waren?

Es gibt Firmen, die sind beim Thema seit 20 Jahren vorbildlich aktiv. Andere haben die Chance der Freiwilligkeit nicht genutzt und müssen jetzt auf Druck hin schnell handeln. Das gilt vor allem für Unternehmen, die nicht nur die Schweizer Regulierungen, sondern vor allem auch die Berichtspflichten der EU CSRD / ESRS umsetzen müssen. Die Schweizer Gesetzgebung ist «softer» und weniger konkret. Aufgeschreckt werden die Unternehmen durch die sehr bürokratisch anmutenden EU-Regulierungen. Das ist schon ein dickes Brett für viele Unternehmen – vor allem dann, wenn man die letzten 15 Jahre etwas verschlafen hat. Das führt momentan auch zu Gegendruck und einem eigentlichen «Regulierungs-Bashing».

Nun sehen sich etliche KMU plötzlich vor der Situation, dass sie ihren EU-Kunden Rechenschaft ablegen müssen über die Konformität ihrer Lieferketten. Inwiefern wurden diese hier auf dem falschen Fuss erwischt?

Für Schweizer KMU sind zwei Dinge zu bedenken: Wenn man als Unternehmen viel in die EU exportiert, ist es aus Wettbewerbsgründen wahrscheinlich eine Notwendigkeit, die Regulierungen umzusetzen, auch wenn man vielleicht gar nicht dazu verpflichtet ist. Zum anderen ist es halt so, dass grössere Kunden von ihren kleineren Zulieferern wie KMU etwa Zahlen zum Carbon-Footprint, den Nachweis eines Reports oder das Mitmachen bei einem Label einfordern. Ist ein KMU aber eher auf die Schweiz fokussiert, dann hoffe ich darauf, dass das Unternehmen die gesetzlichen Pflichten einfacher umsetzen kann. Der Bund klärt ja derzeit die gesetzlichen Grundlagen dazu, das müssen wir abwarten …

Nun hört man aber aus vielen KMU, dass sie ja schon lange – allein aufgrund ihrer Grösse und Struktur – gar nicht anders können, als nachhaltig zu wirtschaften. Umso ärgerlicher wirkt für sie nun die Forderung, dass man darüber nun auch einen Bericht abliefern muss, verbunden mit einem zusätzlichen administrativen Aufwand.

Das ist nachvollziehbar, und in einigen Punkten gebe ich diesen KMU – wir sind ja mit ca. 30 Leuten selbst eines – auch Recht. Gerade in Sachen Energieeffizienz oder soziale Verantwortung den Mitarbeitenden gegenüber leisten die Schweizer KMU echt gute Arbeit. Dies mit Fakten zu untermauern, dürfte denn auch für sie relativ einfach sein. Aber es gibt auch Themen, wo man ehrlicherweise genauer hinschauen muss, etwa die Lieferketten. Es darf nicht sein, dass hinter Rohstoffen und Materialien, die bezogen werden, Menschenrechtsverletzungen stehen. Darauf wird man in Zukunft genauer achten müssen.

Ein ähnliches Thema dürfte auch Scope 3 sein?

Ja, denn Verantwortung ausserhalb des eigenen Betriebs zu übernehmen, ist herausfordernd. Und was ich in der Praxis ebenfalls oft höre, sind Vorurteile zu Nachhaltigkeit: Man stellt einfach eine Photovoltaikanlage aufs Dach, fährt E-Auto oder macht ein Sozialprojekt. Das ist doch eine eher eingeschränkte Wahrnehmung. Unter Nachhaltigkeit verstehe ich einen auf Langfristigkeit ausgerichteten Geschäftserfolg; dazu muss man heutzutage eben immer mehr die Wertschöpfungskette als Ganzes mitdenken.

Aber das ist doch genau das, was viele KMU eben gerade von sich behaupten?

Richtig. In der Schweiz haben wir eine grosse Dichte an KMUs, die in irgendeinem Bereich Weltspitze sind. Viele davon sind auch Familienbetriebe über mehrere Generationen. Das ist klar ein Nachhaltigkeitsausweis. Das Mühsame ist nun, dass man dies jetzt noch irgendwie zu Papier bringen muss – für diesen Einwand habe ich absolutes Verständnis. Tatsache ist aber auch, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung oft auseinanderklaffen. Und ich stelle auch fest, dass viele Managements nicht gelernt haben, Impacts auf Umwelt und Soziales in ihre Entscheide einfliessen zu lassen. Gerade Scope 3 ist dafür ein Beispiel: Wer weiss denn schon aus dem Stegreif, wie viel grösser dort die Emissionen sind? Das muss man halt auch einmal als KMU nachmessen, auch wenn man glaubt, schon vieles gut zu machen.

In diesem Zusammenhang präsentiert Sustainserv ja das «Climate Design», also die Verbindung von Wertschöpfung und Klimaschutz. Das klingt selbstverständlich, die Realität sieht aber vielerorts noch anders aus. Von welchen Denkansätzen gilt es sich in diesem Zusammenhang zu verabschieden?

Gehen wir mal davon aus, ein Unternehmen möchte ein Klimaziel festlegen. In der Praxis erlebe ich es dann oft so, dass dies abseits des Kerngeschäfts diskutiert und geplant wird. Erst später kommt man dazu, auch bei der Produktentwicklung und beim Einkauf darüber nachzudenken. Wenn man ein Klimaziel umsetzen will, nicht nur im eigenen Betrieb über Beschaffung von erneuerbaren Energien oder über eine effizientere Produktion, geht es schnell auch um die gesamte Wertschöpfungskette, also Scope 3. Um hier etwas zu verbessern, braucht es eine gute Zusammenarbeit mit den Zulieferern und den Kunden. Es geht dann darum, ein Produkt besser oder schlanker zu machen, damit es leistungsfähiger wird – und womöglich vom Design her auch besser gefällt. Diese Denkweise existiert im sog. Ecodesign in einem engeren Kontext schon länger: Nicht nur die Ökobilanz eines Produkts zu verbessern, sondern auch seine Funktionalität zu optimieren und es sogar günstiger zu machen.

Das ist für Produkte schön und gut. Wie sieht es denn für Dienstleistungen aus?

Dort geht es darum, zunächst die eigene Wertschöpfung zu erkennen und dann Hebel zu identifizieren, wo man den Klimaschutz zusammen mit Lieferanten und Geschäftspartnern verbessern kann. Das kann durchaus als Innovationstreiber wirken.

Hinzu kommt nun auch das Reporting. Wie müssen KMU die Berichterstattung gestalten: Rein zahlenbasiert oder darf es auch Storytelling sein?

Ohne Zahlen geht es nicht. Es gilt: «Wer nichts misst, kann’s auch nicht managen!». Es geht aber nicht darum, ein Telefonbuch zu produzieren, sondern um die richtigen Hebel und Steuerungsgrössen. Der Ansatz ist deshalb, den Fokus auf das Wesentliche zu richten. Deshalb sind Wesentlichkeitsanalysen eine wichtige strategische Grundlage. Natürlich gehört auch eine Story dazu, sie schafft den Kontext und transportiert Botschaften. Im Reporting müssen sie aber durch Fakten gedeckt sein.

Ich denke, viele Zahlen – etwa zum Energieverbrauch – sind in Unternehmen durchaus vorhanden, sie müssen nur in den richtigen Kontext gestellt werden.

Viele Unternehmen haben mehr in Sachen Nachhaltigkeit zu bieten, als ihnen bewusst ist: Sie haben an der Energieeffizienz gearbeitet, tun viel für ihre Mitarbeitenden, haben gute Kontakte zu Nachbarn. Oft erlebe ich an Initial-Workshops, dass sich viele Unternehmensfunktionen zum ersten Mal dazu austauschen. Da ist zuweilen überraschend viel Substanz und auch Zahlenmaterial vorhanden, gerade für den eigenen Betrieb (Scope 1 und 2). Es muss aber natürlich ausgewertet, verstanden und eben in den richtigen Kontext gestellt werden.

Schwierig wird es also erst mit Scope 3? Wo sollten Unternehmen hier ansetzen?

Man sollte in jedem Fall schrittweise vorgehen. Mittels Screening lässt sich oft der CO2-Fussabdruck in der Wertschöpfungskette grob abschätzen, indem man analysiert: Wie viel Geld geben wir in welchen Kategorien insgesamt z.B. für die Beschaffung oder Geschäftsreisen aus? Oder bei den Mitarbeitenden: Man nimmt z.B. als Basis den durchschnittlichen CO2-Verbrauch beim Pendeln und errechnet so mal grob den CO2-Fussabdruck pro Mitarbeitendem. Das Screening wird dann nach und nach durch Aktivitätskennzahlen ersetzt und man wird genauer in der Analyse und Planung.

Ja, die Mitarbeitenden. Wie involviert man diese am besten? Denn ich habe schon gehört, dass Unternehmen zwar viel für Nachhaltigkeit tun, aber Mitarbeitende gar nichts davon mitkriegen.

Solche Gaps gibt es, übrigens auch umgekehrt: Mitarbeitende, die sich in ihren Teams stark für Nachhaltigkeit engagieren, aber die Geschäftsleitung weiss davon nichts. Mitarbeitende wollen an etwas Sinnvollem teilhaben. Eine Firma, die Wert schafft für Kunden, ihre Mitarbeitenden und die Umwelt, motiviert. Ich halte deshalb nichts vom Vorurteil, dass Nachhaltigkeitsberichte nicht gelesen werden. Im Gegenteil: Wer sich bei einem Unternehmen heute bewirbt, möchte wissen, wie es in Sachen Nachhaltigkeit aufgestellt ist. Ein Nachhaltigkeitsbericht ist da sicher informativer als ein Finanzbericht.

Wie können Unternehmen die Berichterstattung als Treiber für konkrete Verbesserungen nutzen? Und wie kann die Wirksamkeit denn auch gemessen werden?

Unterschätzt wird oft, was der Prozess der Berichterstellung auslösen kann. Da erkennt eine Geschäftsleitung, wo Handlungsbedarf besteht, und setzt sich Ziele. Und mit der Zielsetzung kommt dann auch der Ehrgeiz, diese Ziele zu erreichen.

Zum Schluss: «Quo vadis nachhaltige Wirtschaft?», wenn viele Endkunden gar nicht bereit sind, mehr zu bezahlen oder gar Abstriche bei der Qualität in Kauf zu nehmen? Wer zahlt am Schluss die Rechnung?

Dass gewisse Dinge, etwa erneuerbare Energien, teurer werden, lässt sich nicht wegdiskutieren. Dass mehr Nachhaltigkeit zu schlechterer Qualität führt, kann vorkommen, aber ich finde, das Gegenteil ist eher der Fall.

Ich dachte da an das «Umweltschutzpapier» von früher, das nicht hochweiss, sondern grau war und manchmal sogar noch Rückstände des Rezyklats drin hatte …

Gut, aber auch da gibt es ja grosse Fortschritte … Generell möchte ich sagen: Vor 50 Jahren hat kaum jemand über Qualität und Qualitätsmanagement gesprochen. Auch damals fragten sich manche: Was soll all der Firlefanz? Das macht die Sache doch bloss teurer. Heute ist eine Produktion und ein Produktmanagement ohne Qualitätsmanagement undenkbar. Ich bin sicher, dasselbe wird in naher Zukunft auch mit der Nachhaltigkeit passieren. Schon heute ist ein neu entwickeltes Produkt, das keine Umweltperformances hat, kaum mehr marktfähig. In diesem Sinne glaube ich daran, dass Nachhaltigkeit als integrierter Managementansatz hilft, Risiken zu vermindern und Innovation voranzutreiben.

 

Zur Person

Stephan Lienin ist Mitgründer und Managing Partner von Sustainserv. Seit 2001 unterstützt er Kunden in zahlreichen Branchen dabei, Nachhaltigkeit in Strategie, Tagesgeschäft und Reporting zu integrieren. Nach seiner Ausbildung und Grundlagenforschung an der ETH Zürich entwickelte er am Paul Scherrer Institut (PSI) Analysemethoden für Energie, Mobilität und Klimaschutz. Seine Weiterbildungen in handlungsorientierter Kommunikation setzt er auch als Coach und Moderator ein. Zudem engagiert er sich für Sozialprojekte bei Kamboo Project und in Initiativen wie ESG4Boards.

Hinweis: Sustainserv ist Presenting Partner des Forum Ö, der Jahresveranstaltung von öbu, Verband für nachhaltiges Wirtschaften. Der diesjährige Anlass fragt nach der Zukunft der nachhaltigen Wirtschaft und legt den Fokus auf die Potenziale und Möglichkeiten der unternehmerischen Nachhaltigkeit. Noch nicht angemeldet? Hier geht es zu den Forum ö-Tickets!

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