Interview mit Marcel Siegenthaler: Bei der Software-Auswahl «breit denken»

Am 28./29. August 2018 findet in Zürich einmal mehr die IT-Fachmesse topsoft statt. Die Besucher werden dort eine Fülle an Informationen über Business-Software erhalten. Sich über digitale Lösungen für eine noch effizientere Abwicklung von Geschäftsprozessen zu orientieren, ist ein Gebot der Stunde.

Marcel Siegenthaler: „Mit Einzellösungen fördert man eine zerstückelte IT-Landschaft, die überproportional teuer ist.“ (Bild: zVg)

Geht es nach den Machern dieses etablierten Treffs der Schweizer Business-Software-Branche (siehe unser Bericht hier), wird dieses Jahr der Puls der Digitalisierung erneut sehr hoch schlagen. Doch dies ist noch nicht überall gleich spürbar, wie Marcel Siegenthaler, Senior Consultant & Partner der topsoft, im Interview verrät.

Die nächste topsoft steht nun also vor der Tür: Was wird das dominierende Thema der Messe sein?

Marcel Siegenthaler: Noch stärker als letztes Jahr werden dies Themen aus dem Bereich Industrie 4.0, vor allem IoT, sein. Mengenmässig werden nach wie vor die klassischen ERP-Themen dominieren. Das interessiert auch, denn viele Unternehmen haben in ihren Prozessen Nachholbedarf an IT-Unterstützung. Vom CRM über Projekt- und Dokumentenmanagement bis zur Fibu muss oft noch einiges gemacht werden, damit sinnvolle Geschäftsfälle mit IoT möglich sind. An der topsoft geht es um IT-Projekte, um Digitalisierung als konkretes Business. Wir bieten kein Unter­hal­tungsfes­tival, dafür Know-how-Transfer für Entscheidungsträger, welche ihr Unternehmen mit den Möglichkeiten der IT voranbringen wollen.

Zu beobachten ist, dass ERP-Lösungen immer mehr den Kern «Enterprise Resource Planning» zu erweitern scheinen und verstärkt den Kunden fokussieren, d.h. CRM-Funktionen einbauen. Wie lautet Ihre Einschätzung?

Geschäftsprozesse enden nicht an den Firmengrenzen. Sowohl auf der Kunden- als auch auf der Lieferantenseite bieten ERP-Systeme viele Möglichkeiten, die sehr stark über die frühere Adressverwaltung hinausgehen. Vollständig in­tegrierte Webshops beispielsweise ermöglichen es, Medienbrüche – und damit eine grosse Fehlerquelle – zu eliminieren und gleichzeitig auch noch bisher intern durchgeführte Aufgaben den Kunden zu überlassen. Für Firmen, die im Servicegeschäft aktiv sind, bieten sich hier immense Möglichkeiten, indem die Geräte, die bei den Kunden im Einsatz stehen, im ERP gepflegt werden. An dieser Stelle beginnt dann auch bald die Vernetzung dieser Geräte mit IoT ins ERP-System interessant zu werden.

Was bedeutet das für die Evaluation eines ERP-Systems? Wird diese noch komplexer, als sie ohnehin schon ist?

Noch mehr als früher ergibt es Sinn, bei der Auswahl zuerst mal etwas «breit zu denken». Isoliert nach einer Software beispielsweise für Buchhaltung oder Zeiterfassung zu suchen, greift zu kurz. Mit Einzellösungen fördert man eine zerstückelte IT-Landschaft, die zudem noch überproportional teuer ist. Gerade kleinere Unternehmen sollten daher unvorein­genommen überlegen, was mit IT möglich ist. Verständlicherweise fehlt dazu aber das nötige Know-how, schliesslich gehört dieses normalerweise nicht zum Kerngeschäft. Hier helfen die Fachmesse und auch die persönliche Beratung weiter.

Inwiefern gehört mehr denn je die Kenntnis der «Customer Journey» zum A und O bei der Beschaffung von Business-Software?

Die Customer Journey ist ein Teil der Business-Prozesse, die man mit IT abdecken möchte. Die Prozesse beginnen aber noch viel früher, z.B. bei der Planung des Produktportfolios, der Konstruktion, bei Marketingkampagnen und enden nach dem eigentlichen Kundenkontakt bei Themen wie Nach­kalkulation, Jahresabschluss etc. Wir verstehen das ERP als mächtiges Führungsinstrument auf allen Hierarchiestufen. Diese Eigenschaft kann es aber nur ausspielen, wenn die Daten in ausreichender Qualität in der ganzen Breite der Geschäftsprozesse erfasst werden.

Ebenfalls im Vormarsch ist die digitale Dokumentenverwaltung. Was empfiehlt sich eher: eine Separat­lösung oder ein direkt ins ERP-System integriertes DMS?

Vielen Firmen genügen relativ rudimentäre Möglichkeiten im DMS vollauf – diese können mit den manchmal bereits vorhandenen Dokumentenverwaltungen auskommen. Werden höhere Ansprüche gestellt, beispielsweise an die Versionierung der Dokumente aufgrund von rechtlichen Vorgaben, so bieten bei genauerer Betrachtung nur noch die professionellen DMS diese Leistungen an. Das sehen auch die meisten ERP-Anbieter so und bieten daher oft eine gute Integration eines der führenden DMS in ihr ERP an.

Daten seien die neue Währung, heisst es allenthalben. Was ist bei der Beschaffung einer neuen ERP-Lösung bezüglich Datenqualität zu beachten?

Diese Diskussion fokussiert sich oft auf Daten über Kunden. Die firmeninternen Daten, um – wie bereits angesprochen – das ERP als Führungsinstrument zu nutzen, sind mindestens so wichtig. Diese Daten werden laufend im Prozess erzeugt, sofern man die Möglichkeit dazu schafft. Mobile Geräte senken dabei die Hemmschwelle, um Betriebsdaten, Projekt­zeiten, Lagerbewegungen etc. korrekt und auch gleich im richtigen Moment zu erfassen. Jeder Umweg über Papiernotizen senkt die Datenqualität. Die Möglichkeiten der Erfassung mit mobilen Geräten ist daher bei der Softwareauswahl zu beachten. Oft braucht es einzelne Masken, welche intuitiv verständlich sind und auf die wenigen gerade sinnvollen Funktionen fokussieren. Sind die Daten lückenlos und gut, so macht auch deren Auswertung Freude. Die Zeiten sind vorbei, in denen man für jede Auskunft auf die Buchhaltung angewiesen ist und nur vergangenheitsbe­zogene Auswertungen erhält. Mit modernen ERP, gefüllt mit guten Daten, ist der aussagekräftige Blick in die nähere Zukunft möglich.

Welchen Stellenwert hat die künstliche Intelligenz derzeit im Bereich der Business-Software?

Direkt im ERP ist KI nur sehr spärlich vertreten. Oft ist der Bedarf einfach nicht vorhanden, um beispielsweise mit «Sentiment Analysis» herauszufinden, ob der Kunde nun glücklich oder unzufrieden ist. Allerdings ist die Integration der Sprach­erkennung in einigen ERP-Systemen zur praxistauglichen und effizienten Nutzung bereits vorhanden. Servicenotizen oder Mails direkt ins ERP zu diktieren, ist möglich, weil diese Cloud-Dienste von grossen Softwareanbietern zur Verfügung gestellt werden. Als Teilbereich der künstlichen Intelligenz sehe ich hingegen interessante Möglichkeiten im «Machine Learning». Ob damit allerdings etwa die Produktionsplanung mittelfristig revolutioniert wird, bezweifle ich. Und wenn, dann für Firmen mit sehr grossen Produktionsstückzahlen und nicht für das typisch schweizerische KMU. Schaut man aber, wie IoT mit dem ERP interagieren könnte, so ist der sinnvolle Einsatz von Machine Learning nicht weit weg, um statt einer riesigen Datenmenge brauchbare Informationen zu erhalten.

«Das Internet der Dinge wird Mainstream» ist ebenfalls ein viel gehörter Trend. Was ist Realität und was (noch) Wunschdenken?

Am Software-Contest vom 17. April in Bern habe ich mit dem Beispiel eines über 200-jährigen Spinnrades gezeigt, wie IoT mit dem ERP funktionieren kann. Dieses ehrwürdige IoT-­Gerät werden wir auch an der Fachmesse dabeihaben. Dieses Beispiel soll zeigen, wie wenig eigentlich nötig ist – auch wenn es in diesem Fall nicht um eine fertig entwickelte industrie­taugliche Lösung geht. Technisch ist eigentlich alles vorhanden; was fehlt, sind die Business-Cases. Im Servicebereich wären diese reichlich vorhanden. Solange aber Aufträge sowieso einfach eintreffen, wird die Weiterentwicklung nicht nach­gefragt. Wir stellen fest, dass der Hunger nach Digita­lisierung in diesem Ausmass nicht wirklich vorhanden ist. Ich per­sönlich sehe darin eine gefährliche Haltung, denn im Ausland gibt es genügend Firmen, die mit IoT-Einsatz und einem ­cleveren Geschäftsmodell manches etablierte Schweizer ­Unternehmen in Bedrängnis bringen können.

Sie bieten – nicht nur an der topsoft – Beratungen an, «damit Lösung und Anbieter passen». Wie schwierig ist «Matchmaking» bei den mehr als 300 Anbietern von Business-Software?

Normalerweise beginnen wir mit der Prozessanalyse und versuchen, einen möglichst umfassenden Prozess gemeinsam mit den Betroffenen zu definieren. Dazu passend ist bei jeder Tätigkeit in diesem Prozess die Unterstützung durch den Computer zu definieren. Das ergibt nicht nur die Ausschreibungsunterlagen, sondern dient bei der Umsetzung auch als gemeinsame Sprache zwischen Anbieter der neuen Software und Anwender. Die Schwierigkeit liegt darin, die wirklich kniffligen Anforderungen an die Software herauszuschälen und nicht in epischer Breite Funktionen zu beschreiben, welche sowieso bei fast allen Softwaresystemen inbegriffen sind. Damit funktioniert das Finden des am besten geeigneten Partners ganz gut. Bei besonders seltenen oder ausge­fal­lenen Projekten haben wir schon mehrfach erfolgreich auch das ganz grosse Fischnetz durch den Ozean der Software­anbieter gezogen. Da sprechen wir dann nicht mehr von 300 Anbietern, sondern mehreren Tausend. Neben den tech­nischen Anforderungen sind noch viele weitere Aspekte wichtig, allen voran die Möglichkeiten des Anbieters, den An­wender ­adäquat zu unterstützen.

Zum Schluss: Ihre persönliche Empfehlung an Unternehmen, welche sich weiter «digitalisieren» wollen?

Jetzt beginnen! Spätestens mit dem Besuch der Fachmesse am 28. und 29. August in Zürich. Und dort den Fächer breit öffnen und mal schauen, was in Sachen Business-Software möglich ist. Vielleicht ergeben sich ja auch Ideen, welche mit der vorhandenen IT ohne monströse Budgets umsetzbar sind.

Weitere Informationen: www.topsoft.ch

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