Bundesrätin Karin Keller-Sutter am Wifo: «Manchmal muss man zwischen zwei Übeln entscheiden»
Der Krisenmodus hält Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Atem. Das 27. Rheintaler Wirtschaftsforum vom 2. Juni 2022, das dem Thema Risiko gewidmet war, hätte aktueller nicht sein können. Die Referate skizzierten Wege in und aus der Krise. Dabei erlaubte Bundesrätin Karin Keller-Sutter auch einen Blick hinter die Kulissen des Regierungsbetriebs.
Alle guten Dinge sind drei: Das 27. Rheintaler Wirtschaftsforum hätte eigentlich schon letztes Jahr durchgeführt werden sollen. Und auch Anfang 2022 musste es nochmals verschoben werden. Nun, am 2. Juni 2022, konnte es endlich stattfinden – und zwar mit vollem Programm, denn alle Referentinnen und Referenten konnten wie geplant auch am Verschiebedatum auftreten. Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagte trotz laufender Session im Bundeshaus zu.
Volles Haus und hochkarätige Referentinnen und Referenten
Somit war für die über 700 Besucherinnen und Besucher alles angerichtet. Und das Thema «Risiko, Verantwortung, Führung – wie wir in und nach Krisen zukunftsfähig bleiben» hatte sogar noch an Aktualität gewonnen. Beim letzten Rheintaler Wirtschaftsforum im Januar 2020 stand noch die Klimakrise im Fokus, dann kam die Corona-Pandemie, im Februar 2022 folgte der Angriff Russlands auf die Ukraine. Die geopolitische und wirtschaftliche Lage der letzten Monate und Jahre bot denn auch reiches Anschauungsmaterial und dominierte den Tenor der Referate. Neben Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Nestlé-CEO Mark Schneider, Risikoforscher Gerd Gigerenzer, Ursula Nold, Präsidentin des Migros-Genossenschaftsbunds, sowie Überraschungsgast Matthias Hüppi war das Panel des Wirtschaftsforums wiederum hochkarätig besetzt.
Karin Keller-Sutter: „Bundesrat ist nicht unfehlbar“
«Wir müssen damit leben, dass wir nicht in einem perfekten System leben», sagte EJPD-Vorsteherin Karin Keller-Sutter. Da gebe es auch mal Spannungen, und nicht jeder tatsächliche oder vermeintliche Widerspruch könne immer aufgelöst werden. «Dieses Kunststück schaffen nur Ideologien.» Gerade während der Corona-Krise habe der Bundesrat immer wieder «zwischen zwei Übeln» entscheiden müssen. Karin Keller-Sutter räumte ein, dass der Bundesrat gewiss nicht unfehlbar sei, dennoch sei er eine gute Institution, die es zu verteidigen gelte. Im Gespräch mit Moderatorin Sonja Hasler zeigte Karin Keller-Sutter auch hin und wieder ihre persönliche Seite. Gefragt nach der Stimmung, die zuweilen im Bundesrat herrsche, räumte sie ein, dass es zuweilen «mühsam» gewesen sei, sich mit vielen Details von Verordnungen herumschlagen zu müssen. Sie bedauerte auch, dass während der Corona-Krise viele andere wichtige Dinge wie etwa die Reform der Sozialwerke in den Hintergrund getreten sind. Und der Ukraine-Krieg bilde für sie eine ganz andere Kategorie von Krise: Wie brutal dieser Krieg geführt werde und dass es dabei auch zu Menschrechtsverletzungen komme, treffe sie emotional.
Doch wie kann man in Krisensituationen überhaupt richtig entscheiden? Dazu gab der Berliner Risikoforscher Gerd Gigerenzer einige Inputs. Es gelte, Entscheide datenbasiert wie intuitiv fällen. Dabei vermisst er aber in vielen Gremien grundlegende Fähigkeiten, mit statistischen Daten umzugehen. Gigerenzers Sympathie gehört letztlich aber dem «Entscheid aus dem Bauch». Er wies darauf hin, dass in Unternehmen rund 50 Prozent der Entscheide solche aus dem Bauch sind. Er stelle fest, dass «wir uns immer weiter weg von einer Leistungskultur zu einer Absicherungskultur bewegen». Zielführend sei indes eine «positive Fehlerkultur an Stelle von defensiver Absicherung».
Viele Risiken, die bleiben
Ursula Nold, die Präsidentin der Verwaltung des Migros-Genossenschaftsbunds, zeichnete nach, wie sich die Migros in Krisenzeiten nachhaltig verhält. Es gebe weder Geheim- noch Patentrezepte für Erfolg, doch gelte es, nach dem Scheitern immer wieder aufzustehen. Dies sei ganz im Geist von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler, der selbst ein «Meister des Scheiterns» gewesen sei. Wenn bisherige Erfolgsrezepte nicht mehr funktionieren, müsse man Flexibilität zeigen. Voraussetzung dazu, und dies sieht Ursula Nold als wesentlichen Teil der Migros-Kultur, sei ein entsprechendes Bewusstsein sowie stetige Innovationsfreude.
Über das Thema «Scheitern» kann auch Matthias Hüppi ein Lied singen. Der ehemalige Sportmoderator und heutige Präsident des FC St.Gallen gab als Überraschungsgast Einblick in den Alltag eines Fussballclubs, wo Risiko und Unsicherheit permanente Begleiter sind.
Immer wieder Krisenszenarien durchspielen muss auch Nestlé, der weltgrösste Nahrungsmittelkonzern, wie dessen CEO Mark Schneider schilderte. Schneiders Blick auf die nächsten Jahre war pessimistisch: «Die 2020er-Jahre werden auf geisterhafte Weise den 1970er-Jahren gleichen.» Dies in anderer Form mit Inflation, Stagflation, Beschränkungen in Lieferketten und der Energiewirtschaft. «Nur wenn man sich darauf einstellt», so Schneider, «wird man auch damit umgehen können.» Denn Krisen hätten kein definiertes Ende und der Zustand von davor werde sich nie wieder einstellen. «Nostalgie bringt da nichts», so Schneider. Er appellierte an die Unternehmerinnen und Unternehmer im Saal, gerade in Krisensituationen ihre soziale Verantwortung nicht zu vergessen. Und auch zu vermeiden gelte es, sich als Profiteur einer Krise zu zeigen. «Die Welt mag keine Krisengewinner».
Das nächste Rheintaler Wirtschaftsforum findet am 20. Januar 2023 wieder in Widnau statt. Die Anmeldung ist ab sofort unter www.wifo.ch möglich.
Gustav Spiess AG erhält Preis der Rheintaler Wirtschaft
Das Bernecker Familienunternehmen Gustav Spiess ist am Wirtschaftsforum mit dem «Preis der Rheintaler Wirtschaft 2022» geehrt worden. Aus den Händen von Jurypräsidentin Brigitte Lüchinger konnte Jürg Spiess von der dritten Spiess-Generation die Skulptur «Kreislauf» der Rheintaler Künstlerin Karin Thür entgegennehmen. Die Jury würdigte den Preisträger für die hohe Qualität der Produkte und das organische Wachstum, ebenso für nachhaltiges Bauen und das Bekenntnis zum Standort Berneck. Die Gustav Spiess AG besteht seit 61 Jahren und produziert Wurst- und Fleischwaren sowie Schinken- und Speckprodukte. Sie beschäftigt rund 160 Mitarbeitende. Der «Preis der Rheintaler Wirtschaft» wurde am Donnerstag zum 28. Mal verliehen.