Unternehmenskultur: Wasser predigen, Wein trinken?
In der heutigen Unternehmenskultur ist Integrität die neue Lieblingsvokabel im Management. Mitarbeiter sollen sich nicht mehr nur an staatlichen Gesetzen und internen Regeln orientieren, sondern sich auch unter moralischen Gesichtspunkten korrekt verhalten. Stefan Kühl, Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld, sieht in darin auch Widersprüche.
Unternehmenskultur heute heisst „integre Unternehmenspolitik“. Die Unternehmensspitzen sind von ihrer „werteorientierten Führung“ überzeugt. Generell sucht man auf jeder Ebene nach einer „moralischen Haltung“. Unternehmen richten inzwischen die Position des Chief Integrity Officer ein. Verwaltungen starten umfassende Programme zur Förderung von Integrität unter den Mitarbeitern. Krankenhäuser verteilen Fragenkataloge, mit deren Hilfe Mitarbeiter vor jeder Entscheidung abschätzen können, ob sie den
Ansprüchen an Integrität entspricht oder nicht. Wie ist es zu dieser Popularität der Moral gekommen? Und was sind die Folgen, wenn Moral so offensiv als Massstab für organisatorisches Handeln eingefordert wird?
Gründe für die Popularität von Integrität
Der Grund für die Popularität der Integrität wird im „Versagen“ der klassischen Systeme zur Regeleinhaltung gesehen (Grüninger et al. 2015: S. 2). Unter dem Begriff der „Compliance“ haben alle grösseren Organisationen Regelsysteme eingeführt, mit denen die Einhaltung von staatlichen Gesetzen, branchenweiten Standards und organisationsinternen Vorgaben sichergestellt werden sollte.
Es wurden Abteilungen eingerichtet, die nicht selten Hunderte von Mitarbeitern haben, deren einzige Aufgabe darin besteht, die Befolgung der Regeln sicherzustellen, und es bildeten sich eigene Karrierewege für Compliance Manager aus. Die Logik dieser klassischen Systeme zur Überprüfung der Regeleinhaltung ist denkbar einfach. Organisationen geben sich Programme, an die sich die Mitgliederzu halten haben, wenn sie Mitglied der Organisation bleiben wollen.
Eine Entscheidung, die durch das Programm gedeckt ist, ist richtig. Eine Entscheidung, die dem Programm widerspricht, ist falsch (Luhmann 1972: S. 88). Ein Beispiel: Bei Ausschreibungen über 20.000 Euro sind mehrere Angebote einzuholen – wenn man dies macht und dabei die Ausführungsbestimmungen beachtet, ist man als Mitglied auf der sicheren Seite, wenn man dies nicht befolgt, steht man bei Bekanntwerden unter Rechtfertigungszwang.
Die Aufgabe des Compliance Managements besteht dann lediglich darin, die Einhaltung dieser Vorgaben so gut es geht zu überwachen.
Die Wahrnehmung, dass solche Systeme zur Regeleinhaltung nicht ausreichen, um Korruption, Geldwäsche, Kartellbildungen und Umweltverstöße zu bekämpfen, hat zur populären Forderung geführt, dass sich Organisationen an „moralischen Werten“ orientieren sollen. Man sollte sich in Organisationen, so das Argument, nicht nur an Regeln halten, sondern sich gezielt an Werten orientieren. Ziel könne nicht stupide Befolgung von Regeln sein – die Vermeidung von Verstössen gegen staatliche Gesetze, branchenspezifische Standards oder interne Gesetze. Es komme vielmehr auf die Entwicklung einer „spezifisch werteorientierten Haltung“ an, die weit über die durch die Organisation gesetzten Regeln hinausgehe (Schöttl/Ranisch 2016; siehe früh in diesem Sinne z.B. Badaracco/Ellsworth 1989; Srivastva 1988; Paine 1994).
Das Problem mit den Werten
Das Bekenntnis zu Werten hat auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität. Es wäre überraschend, wenn die Geschäftsführer eines Unternehmens offen für eine „korrupte Unternehmenspolitik“ einträten, eine „unmoralische Haltung“ ihrer Mitarbeiter einforderten und eine von „Werten befreite Führung“ propagieren würden.
Der Vorteil von Werten ist, dass sie „hohe Konsenschancen“ haben (Luhmann 1972: S. 88 f.). Abstrakt kann man sich schnell darauf einigen, dass Menschenrechte, Umweltschutz und Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit anzustreben sind.
Das Problem ist jedoch, dass Werte im Gegensatz zu Programmen nur sehr unbestimmte Anhaltspunkte für Entscheidungen geben: Es bleibt weitgehend unklar, welche Entscheidung einer anderen vorgezogen werden muss (Luhmann 1972: S. 88 f.; siehe auch Luhmann 1997: S. 343). Wie soll man darauf reagieren, wenn die Freiheit, sich mit einem Auto beliebig fortzubewegen, den vorzeitigen Tod Tausender Anwohner von Schnellstrassen durch Stichoxide und Feinstaubbelastung zur Folge hat?
Soll man im Konfliktfall für die Durchsetzung von Menschenrechten einen Krieg führen? Die Orientierung an Werten führt – anders als die Orientierung an Programmen – bei konkreten Entscheidungen zu einer Vielzahl von sehr praktischen Widersprüchen.
Die Moralisierung der Organisation
Die Forderung nach Integrität ist erst einmal die Aufforderung an die Mitarbeiter, sich moralisch vorbildlich zu verhalten (siehe dazu Paine 2006). Mitarbeiter müssten die „Charakterstärke“ zeigen, auch in schwierigen Situationen für „das Richtige und Gerechte“ einzustehen, und zwar auch dann, wenn dieses Verhalten mit einem hohen Preis für sie selbst verbunden ist (Kuhn/Weibler 2012: S. 72).
Die Mitarbeiter sollen sich aus „Einsicht in die Richtigkeit“ an moralische Richtlinien halten und nicht, weil deren Verletzung mit Sanktionen verbunden ist (Grüninger et al. 2015: S. 7). Der moralische Anforderungskatalog an die Mitarbeiter wird zu einer fast unendlichen Liste (siehe beispielhaft Kuhn/Weibler 2012b). Mitarbeiter sollen „in Einklang mit den eigenen Werten“ handeln und sich dabei permanent um einen „fairen Ausgleich“ bemühen zwischen dem, was ihnen persönlich nützt und dem, was anderen nützt. Ein Widerspruch.
Die Aufforderung zur Heuchelei
Wenn Organisationen gegenüber ihren Mitarbeitern den Wert der Integrität betonen, führt dies nicht dazu, dass sich diese auch moralischer verhalten. Moral funktioniert nicht wie eine Trivialmaschine, bei der man auf der einen Seite die Forderung nach moralgeleiteten Einstellungen hineinsteckt und dann auf der anderen Seite moralisches Handeln herauskommt.
Der Effekt von Integritätskampagnen ist lediglich der, dass die Mitarbeiter ihr Handeln anders darstellen müssen. Angesichts der von der Organisationsspitze betriebenen Aufladung mit Werten müssen sie ihr Handeln nicht mehr nur als regelkonform, als effizient und innovativ, sondern zusätzlich auch als moralisch vorbildlich präsentieren.
Solche Kampagnen zur Integrität produzieren genau das, was sie eigentlich verhindern wollen – Heuchelei. Sicherlich – keine Organisation kann es sich leisten, auf ein gewisses Mss an Scheinheiligkeit zu verzichten (Brunsson 1989: S. 194 ff.; siehe auch Brunsson 1986; Brunsson 1993). Jedes Unternehmen, jede Verwaltung, jedes Krankenhaus, jede Partei und jede Nichtregierungsorganisation ist darauf angewiesen, ihrer Umwelt neben ihren eigentlichen Leistungen immer auch eine geschönte Darstellung ihrer selbst zu präsentieren (siehe dazu Kühl 2011: S. 136 ff.). Scheinheiligkeit und Heuchelei sind lediglich die in der Organisationswissenschaft etablierten, für Praktiker aber vielleicht zuerst unfreundlich klingenden Begriffe für ein solches Aufhübschen der Schauseite von Organisationen.
Aber es gibt gute Gründe, dieses für die Herstellung von Legitimation notwendige Aufhübschen der Organisation Spezialisten zu überlassen. Es ist zentraler Bestandteil der (manchmal impliziten) Jobbeschreibungen von Marketingexperten und PR-Abteilungen, und es gehört zum Geschäftsführerwissen, eine hübsche Fassade der Organisation aufzubauen, zu pflegen und notfalls auch zu reparieren.
Aber zu ihrer Professionalität gehört es auch, die aufgehübschte Vorderbühne nicht mit der Realität der Organisation zu verwechseln. Verlangt die Spitze einer Organisation jedoch von allen Mitarbeitern das Bekenntnis zu Werten, Moral und Integrität, blockiert dies die notwendigen Auseinandersetzungen innerhalb der Organisation. Integrität wird zu einer abstrakten Formel, zu der man sich – will man Karriere in der Organisation machen – bekennen muss.
Auf manchmal schon in einem überraschenden Masse gottesdienstähnlichen Sitzungen übt man die von oben verordneten Werteformulierungen ein. Mikropolitische Konflikte werden moralisch aufgeladen und die in jeder Organisation unvermeidbaren Kontroversen mit Aspekten persönlicher Achtung verbunden. All das verändert eine Organisation. Aber eines wird sie dadurch sicherlich nicht – eine unter moralischen Gesichtspunkten bessere Organisation. (Oben ist nur eine gekürzte Version abgebildet. Quelle: Stefan Kühl: „Das moralisierende Unternehmen – Wie die Forderung nach Integrität Mitarbeiter zu Heuchlern macht“, Work Paper 17. Mai 2018)
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Senior Consultant für die Beratungsfirma Metaplan. Zum Thema ist gerade sein Buch „Organisationskulturen beeinflussen. Eine sehr kurze Einführung“ (Wiesbaden: Springer VS) erschienen.