Die KMU-Perspektive
Am 28. Oktober 2016 fand in St.Gallen der traditionelle Schweizer KMU-Tag statt. Das Tagungsthema lautete „KMU und Perspektivenwechsel – mittendrin und trotzdem draussen.“ Einmal mehr war „volles Haus“ – und die Besucher kamen in den Genuss von praxisorientierten Workshops, gehaltvollen Referaten und reichhaltigen Networking-Möglichkeiten.
Der herbstliche Nebel begann sich zu lichten, als die ersten Gäste in der Olma-Halle 9 in St.Gallen eintrafen. Nach einigen Umwegen waren dann auch die Räumlichkeiten der diversen Workshops, angeboten und durchgeführt von den Hauptsponsoren, gefunden und die Tagung konnte beginnen. Auch der ORGANISATOR, seit Jahren einer der Haupt-Medienpartner des Anlasses, führte einen eigenen Workshop durch. Darin zeigte Management-Beraterin Beatrice Erb den Perspektivenwechsel in der Arbeitswelt auf: Der demografische Wandel sowie der Fachkräftemangel zwingen Unternehmen, sich besonders der Generation 50+ anzunehmen. Denn diese haben mehr mit den Rolling Stones gemeinsam als Aussicht auf den Rollator…
Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung
Den Einstieg in den Referateteil machte wie gewohnt Tagungsleiter Prof. Dr. Urs Fueglistaller, Direktor von KMU-HSG. Er verwies auf die neuesten Zahlen des Bundesamts für Statistik, und schon da zeigt sich, dass vieles eine Frage der Perspektive ist: Die grosse Masse der KMU, also 92,4 Prozent, sind Kleinstunternehmen mit 0 bis 9 Mitarbeitenden. Oder in absoluten Zahlen: Den insgesamt 1273 Grossunternehmen stehen 576‘848 KMU gegenüber, also ein Verhältnis von 1:453. Weiter erläuterte Urs Fueglistaller einige Ergebnisse der KMU-Tag-Studie, welche auch dieses Jahr durchgeführt wurde. Diese ergab, dass KMU das Oszillieren zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung insgesamt sehr gut beherrschen – ebenso das stetige Zusammenspiel von strategischem Denken und operativem Handeln.
Ökonomische und unternehmerische Perspektiven
Die Perspektive des Ökonomen nahm anschliessen Prof. Dr. Martin Kolmar von der Universität St.Gallen ein. Er legte dar, dass KMU mit diversen Herausforderungen konfrontiert sind, wirtschaftliche, politische, ökologische und gesellschaftliche. Die Digitalisierung ist nur eine davon, aber eine, welche Arbeitsmärkte sowie die Organisation von Unternehmen nachhaltig verändern wird. Er prägte in diesem Zusammenhang den sperrig anmutenden Begriff der „Dienstleistungisierung“ – etwa, wenn ein Auto nicht mehr nur als Produkt angeboten wird, sondern als Dienstleistung. Ein Kernelement von Perspektivenwechseln sei die Empathie, wie Kolmar weiter ausführte. Er appellierte dabei an das ethische Verhalten von Unternehmen, was diese längerfristig profitabler mache.
Die unternehmerische Perspektive stellte Thomas Binggeli, Gründer und CEO von Thömus Veloshop, dar. Er zählt zu jenen Menschen, die das Unternehmer-Gen wohl im Blut haben, verkaufte er doch schon mit 17 Jahre die Schafe seines elterlichen Hofes, um das Startkapital für ein eigenes Velogeschäft zusammenzubringen. Beharrlich und überzeugt von seinen Ideen nahm er diverse Rückschläge in Kauf, um letztlich seine Idee eines Elektrovelos, „das wie ein iPhone funktioniert“, in die Realität umzusetzen. Die neueste Generation des „Stromer“, so seine Marke, ist denn auch ein durch und durch digitalisiertes Fahrrad mit Tracking-Möglichkeiten, Sharing-Modellen und weiteren Funktionalitäten. Wie er in der anschliessenden – durch Moderatorin Christa Rigozzi geführten – Diskussion erläuterte, sind ihm bei der Entwicklung seiner Produkte die direkten Feedbacks und Bedürfnisse der Kunden besonders wichtig. „Die meisten neuen Geschäftsmodelle entstehen bei gemeinsamen Velofahrten in der freien Natur“, beschrieb Thomas Binggeli eines seiner Erfolgsrezepte.
Sehen und gesehen werden
Der Philosoph Wilhelm Schmidt nahm in seinem Referat direkten Bezug auf das Radfahren und zeigte anschaulich die Bedeutung von Perspektivenwechseln: Autofahrer ärgern sich über Radfahrer, aber wenn sie selbst nach Feierabend ein paar Trainingsrunden auf den Rad absolvieren wollen, nerven sie sich wiederum über die Autofahrer – oder auch über Fussgänger, die sich wiederum über die Rad- und Autofahrer ärgern. Von diesen alltäglichen Beispielen leitete er über zu vier Gründen, weshalb wir die einen Dinge sehen, andere aber nicht: Entweder, weil Dinge unseren Blicken entgehen, oder weil sie hinter einer Ecke versteckt liegen, nicht unseren Vorstellungen entsprechen oder aber einfach nicht unseren Interessen entsprechen. Der Umkehrschluss müsse deshalb lauten: „Wir haben keine Perspektive, wir sind die Perspektive.“
Ums Sehen ging es auch im anschliessenden Vortrag von Bea Knecht, Gründerin von Zattoo, Europas grösstem Live-WebTV-Anbieters. Schon während ihres Informatik-Studiums im kalifornischen Berkeley hat sie die Zukunftsperspektive des Fernsehens erkannt: Im Zuge der Entwicklung von HDTV wird der Fernseher zum Computer – aber auch: Der Computer wird zum Fernseher. Anhand von einigen Anekdoten aus der Entstehungsgeschichte von Zattoo – übrigens ein transskribiertes japanisches Wort für „Menschenmenge“ – gab sie dem Publikum auch ein paar praktische Tipps für die eigene Unternehmensentwicklung mit: Nicht zu lange nach neuen Marken suchen, und pro Jahr bewusst nur eine Priorität setzen.
Menschen und sich selbst wahrnehmen
Ebenfalls mit einer spannenden Unternehmensgeschichte aufwarten konnte Luciano Marinello. Sein Grossvater wollte eigentlich von Norditalien nach Amerika auswandern, „strandete“ aber in Zürich, wo er seine Frau kennenlernte, mit der er dann ein stadtbekanntes Gemüsehandelsunternehmen aufbaute. Luciano Marinello übernahm das Geschäft dann nach eigenen Lehr- und Wanderjahren im Jahr 2002. Als Patron waren ihm besonders die Menschen wichtig; er war als Unternehmer zwar allein entscheidend, aber immer mitten unter den Mitarbeitenden. Gleichzeitig auch noch die Rolle des perfekten Familienvaters einzunehmen, brachte ihn aber immer wieder auch an Grenzen. Schliesslich musste Luciano Marinello einen folgenschweren Entscheid fällen und verkaufte sein Geschäft an einen Grossverteiler – aber mit der Auflage, dass keine Mitarbeitenden die Stelle verlieren. Er verwies dabei klar darauf, dass auch heute alle Unternehmer eine soziale Verantwortung tragen.
Anitra Eggler setzte dann den Referate-Schlusspunkt. Die selbsternannte „Digital-Therapeutin“ zeigte die Auswüchse der ständigen Erreichbarkeit dank Smartphones und die Tücken des Internets, welche täglich am Arbeitsplatz auf uns warten. Ein Mensch mit einer Lebenserwartung von 75 Jahren wird 12 Jahre seines Lebens im Internet verbracht haben, 8 Jahre am Handy – aber bloss 14 Wochen lang geküsst haben – so lautet die wohl nicht unrealistische Bilanz von Anitra Eggler. Sie rät denn auch zu bewusstem Abschalten, Selbstbeschränkungen beim Leeren der Mailbox und allgemein zu mehr Mut zur Langsamkeit. Vielleicht sah sich der eine oder andere KMU-Unternehmer diesbezüglich zu einem längst fälligen Perspektivenwechsel veranlasst.
Text: Thomas Berner
Weitere Informationen: www.kmu-tag.ch
Weitere Impressionen des KMU-Tags: ORGANISATOR-Workshop, Referenten Luciano Marinello, Anitra Eggler. (Bilder: Rolf Gubelmann, Thomas Berner)