NWX22: Ein Fest für die Unternehmenskultur
Am 20. Juni fand in der Hamburger Elbphilharmonie die NWX22 statt, das wohl grösste HR-Event im deutschsprachigen Raum. 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie über 100 Speaker stellten sich hochaktuellen Diskussionen rund um die neue Arbeitswelt.
Für einmal gehörte am 20. Juni 2022 die Hamburger Elbphilharmonie, der Prestige-Bau für die «High Culture», ganz der HR-Welt: Die fünfte New Work Experience, kurz NWX22, lockte rund 2000 Besucherinnen und Besucher an die Gestade der Elbe. Als Treffpunkt der New Work-Community aus Deutschland, Österreich und der Schweiz fand sie dieses Jahr unter dem Motto «Celebrating Work // Pioneering Culture» statt. Das Line-up aus mehr als 100 Referentinnen und Referenten sorgte für insgesamt 14 Stunden Programm in verschiedenen Formaten von Diskussionen über Keynotes bis hin zu Sessions im kleinen Rahmen. Die NWX22 dürfte damit für die HR-Welt das bisher grösste Netzwerk-Treffen im deutschsprachigen Raum gewesen sein. «Die Unternehmenskultur-Revolution ist in vollem Gange. So viel Inspiration und Expertise zur Zukunft der Arbeit war schon lange nicht mehr an einem Ort vereint», sagte Petra von Strombeck, CEO der New Work SE, Betreiberin des Online-Netzwerks Xing sowie der Arbeitgeber-Bewertungsplattform kununu und ihres Zeichens Veranstalterin des Anlasses.
Die «Great Resignation»
Es war mitnichten ein «Selbstbeweihräucherungs-Anlass» der HRM-Branche. Im Gegenteil: Die NWX22 vermochte durchaus die grossen Herausforderungen aufzuzeigen, mit denen Arbeitgeber und Mitarbeitende derzeit konfrontiert sind. Allein die Tatsache, dass Anfang 2022 im deutschsprachigen Raum rund 37 Prozent der Arbeitnehmenden laut über einen Jobwechsel nachdachten und ihr Ansinnen dann auch in die Tat umsetzten, muss die Betriebe aufhorchen lassen. Als Hauptgrund dieser Kündigungswelle, der «Great Resignation», wird die zunehmend mangelnde Unternehmenskultur gesehen. Doch die allumfassende Antwort auf die Frage «Wie schaffe ich mir eine Arbeitswelt, wie sie mir gefällt?» scheint noch nicht gefunden. Denn dass in Sachen «New Work» längst nicht alles Gold ist, was glänzt, trat in Referaten und Podiumsdiskussionen mehr als nur einmal zu Tage.
Weniger, dafür länger arbeiten (müssen)?
Den Finger auf wunde Punkte in der aktuellen Arbeitswelt legte etwa Philosoph Richard David Precht. Er hielt fest, dass das Thema «New Work» inzwischen nicht mehr nur für das «obere Drittel der Gesellschaft» relevant geworden ist, sondern für alle. «Wir erleben das Ende der Arbeit, wie wir sie kannten. Wir entwickeln uns von der Arbeits- zur Sinngesellschaft. Früher war es nur dem Adel vorbehalten, das zu tun, was er wirklich will. Heute darf das jeder», so Precht. Mit Bezug auf die zunehmende Automatisierung von Arbeiten und der Kritik derselben, wurde Precht ebenfalls deutlich: «Wir sind inzwischen an einem Zustand wie in der DDR angelangt, wo Arbeitserhaltung wichtiger ist als Produktivität». Einen Widerspruch ortet Precht auch in den aktuellen Diskussionen rund um die Sicherung der Rentensysteme. In Deutschland wie auch in der Schweiz wird bekanntlich im Zusammenhang mit der Reform der Altersvorsorge von der Erhöhung des Rentenalters gesprochen. Der technologische Fortschritt bringt es aber mit sich, dass wir eigentlich immer weniger arbeiten müssten – in einigen Unternehmen ist sogar schon die Viertagewoche Realität. «Sollen wir künstlich mehr arbeiten, um die Rentensysteme zu sichern?», fragte sich da Richard David Precht. Sein Lösungsvorschlag für dieses Dilemma: Maschinen besteuern und ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen.
Sinn und Unsinn von «Purpose»
Auch Unternehmensanthropologin Jitske Kramer begeisterte die Gäste mit ihrer Keynote zum Thema «Work has left the building» – und den Veränderungen durch den «Kulturschock Corona». Sie ist der Meinung, dass das Fundament in der Beziehung zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten neu gelegt werden müsse. Um Sinnstiftung im Job drehte sich nicht nur die Keynote von Diplom-Psychologin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl, sondern auch das Panel «Zuviel Unsinn mit dem Sinn? Der Wert von Purpose in der Arbeit» mit Petra von Strombeck (New Work SE), Petra Scharner-Wolff (Otto Group), Prof. Dr. Ingo Hamm (Wirtschaftspsychologe an der Hochschule Darmstadt und Autor des Buchs «Sinnlos glücklich») und Prof. Dr. Heike Bruch von der Universität St.Gallen. Ingo Hamm hinterfragte den Begriff des «Purpose» kritisch, insbesondere die vielzitierten «Firmen-Purposes» à la «We move you» oder «Connecting People». Vielmehr müsse auch über die moralische und psychologische Seite des Sinns gesprochen werden. Moralisch sollte man auch mal gegen Firmenprinzipien arbeiten dürfen, wenn sich daraus ein höherer Sinn ergebe, so Hamm.
Traditionelles vs. modernes Arbeiten
Extrem diskussionsfreudig waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Panels „Wieviel ‚new‘ braucht work?“, bei dem Trigema-Chef Wolfgang Grupp auf Arbeitsforscherin Prof. Dr. Jutta Rump und Nina Zimmermann, CEO von kununu, traf. Während für den erfolgreichen Unternehmer alter Schule vor allem traditionelle Werte und Regeln für eine attraktive Unternehmenskultur sorgen und er Wert auf einen förmlichen Umgang legt, hätten die Positionen von Nina Zimmermann und Prof. Dr. Jutta Rump nicht konträrer sein können. «Beschäftigte wollen heute mehr denn je mitbestimmen. Niemand will mehr gesagt bekommen, was er oder sie zu tun hat», so Nina Zimmermann. Jutta Rump wiederum sieht die Zukunft der Führung nicht mehr in der Rolle von Einzelnen, sondern in Teams.
Darüber hinaus diskutierten engagierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer in über 40 Sessions konkrete Praxisthemen der Arbeitswelt – wie kommen Unternehmen schneller an gute Arbeitskräfte (New Hiring), wie binden sie Talente länger an sich (Employee Engagement)? Was ist gute Führung in einer Welt der Unsicherheit? Und wie finden Jobsuchende die Unternehmen, die kulturell zu ihnen passt?
Auf dem Programm standen aber nicht nur Fragen, die derzeit in der Arbeitswelt heiss diskutiert werden, sondern auch der Blick über den Tellerrand. So erläuterte der Mönch und leitende Meister des «Shaolin Temple Europe» Shi Heng Yi in seinem Vortrag die Bedeutung und Verhaltensweisen der buddhistischen Philosophie für den Menschen in der heutigen Arbeitswelt. Und Tatjana Kiel (Co-Gründerin #WeAreAllUkrainians) sprach mit Markus Diekmann (Gründer von Job Aid Ukraine) über die Hilfsarbeit mit Menschen in und aus der Ukraine.
Kapitulation vor der Zukunft?
Der Krieg in der Ukraine blieb – glücklicherweise – nicht das dominierende Thema an der NWX22. Der Umstand, dass zwei europäische Länder gegeneinander einen Konflikt mit Waffengewalt führen, schimmerte dennoch immer mal wieder durch. So gab sich etwa Richard David Precht optimistisch, dass es dieser Krieg nicht schaffen dürfte, unsere Werte und den Fortschritt in Technologie und Gesellschaft aufzuhalten. Als Kontrapunkt verstehen konnte man hingegen die Ausführungen von Thomas Sattelberger, Abgeordneter des Deutschen Bundestags für die FDP Bayern. Dieser sprach vom Beginn eines neuen Kalten Kriegs («Kalter Krieg 2.0») und der Gefahr, dass sich die Maslow-Pyramide umkehre: Statt um Selbstverwirklichung wird es in Zukunft wieder vermehrt um die reine Sicherung existenzieller Bedürfnisse gehen.
Über die Zukunft nachzudenken ist wichtig und auch notwendig. Davon ist Futurist Ben Hammersley überzeugt. Er hielt in seiner Keynote fest, dass heutige Zukunftsmodelle, darstellbar in exponentiellen Kurven, nicht mehr funktionieren. Auch Diskussionen rund um pro oder contra Homeoffice, Digitalisierung, KI und dergleichen würden sich im Kreis drehen, weil es unmöglich geworden ist, mit bisherigen Mustern über die Zukunft nachzudenken. «Wir können nicht in die Vergangenheit zurück, sondern wir müssen neu anfangen», so Hammersley. «Re-invent the future», so seine Botschaft. Der eine oder die andere Zuhörer/-in mag sich bei diesem Votum womöglich gefragt haben: Kapituliert hier selbst ein Futurist vor der Zukunft?
NWX22: Arbeit ist Kultur – Kultur ist Arbeit
Sicher indes ist – dies als Fazit der NWX22: Die Zukunft der Arbeit beginnt jetzt. Wer sich den Veränderungen nicht proaktiv stellt, wird verlieren. Viele Herausforderungen werden sich nicht mit Patentrezepten bewältigen lassen. Nichtsdestotrotz bot der Anlass viele Gelegenheiten, Arbeit auch mal «abzufeiern», getreu dem Motto «Celebrating Work». Dafür sorgten zahlreiche musikalische Live-Acts wie die Hamburger Elektropop-Band Hundreds, die Kölner Surfpop-Band Planschemalöör oder der Starpianist Alexander Krichel mit seiner Interpretation von Modest Mussorgskis «Bilder einer Ausstellung» für Stimmung. Somit konnte auch der Bogen geschlagen werden zurück zum Veranstaltungsort: Der Elbphilharmonie als Kulturtempel – auch wenn es für einmal hauptsächlich um Unternehmenskultur(en) ging.