Covid-19 und besonders gefährdete Personen: Eine arbeitsrechtliche Einordnung
Zurückhaltung, Grosszügigkeit, Fürsorge und Augenmass: Das wird nun von vielen Arbeitgebern gefordert. Doch was ist arbeitsrechtlich möglich? Wo liegen Schwierigkeiten bei der Auslegung? Ein Vorschlag zur Einordnung der „besonders gefährdeten Personen“ gemäss COVID-19-Verordnung 2 und zum guten Umgang damit im arbeitsrechtlichen Kontext.
In der vom Bundesrat am 16. März 2020 erlassenen und am 20. März 2020 angepassten Verordnung 2 (VO2) über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus sind insbesondere Art. 10b und c von grosser arbeitsrechtlicher Bedeutung. Damit wird nämlich eine neue Arbeitnehmerkategorie eingeführt, die „besonders gefährdeten Personen“. Menschen aus dieser Personengruppe sollen zu Hause bleiben und Menschenansammlungen meiden (Art. 10b Abs. 1 VO2).
Wer sind „besonders gefährdete Personen“?
Unter diese Kategorie fallen Personen ab 65 Jahren und Personen, die insbesondere folgende Erkrankungen aufweisen:
- Bluthochdruck
- Diabetes
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen
- Chronische Atemwegserkrankungen
- Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen
- Krebs
Mit dem Begriff „insbesondere“ wird zum Ausdruck gebracht, dass diese Aufzählung nicht abschliessend ist. Die Rechtsfolgen für die Gruppe der besonders gefährdeten Personen können daher auch auf andere Erkrankungen angewendet werden, sofern diese hinsichtlich des Risikos eines schweren Covid-19-Krankheitsverlaufs als gleichwertig mit den Krankheiten gemäss Art. 10b VO2 eingestuft werden. Da es sich um eine medizinische Thematik handelt, obliegt diese Einschätzung den Hausärzten. Eine anspruchsvolle Aufgabe, wenn man die nachfolgend skizzierten Konsequenzen in Betracht zieht.
Angepasste Pflichten der Arbeitgeber
Die Pflichten der Arbeitgeber wurden schon nach wenigen Tagen im neu formulierten Art. 10c Abs. 2 und 3 VO2 angepasst. In Abänderung des ursprünglichen Verordnungstexts, der für besonders gefährdete Personen nur die Möglichkeiten „Homeoffice“ oder „Dispens unter Lohnfortzahlung vorsah“, wurde der Arbeitnehmerschutz mit der Einführung einer dritten Variante einerseits etwas gelockert, gleichzeitig aber auch die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers konkretisiert.
Die neue Fassung von Art. 10c VO2 sieht folgende Regelung vor:
- Der Arbeitgeber ermöglicht den besonders gefährdeten Arbeitnehmern, ihre Arbeitsverpflichtungen von zu Hause aus zu erledigen. Dazu trifft er die geeigneten technischen und organisatorischen Massnahmen (Art. 10c Abs. 1 VO2). Der Grundsatz “Homeoffice first” wird damit aufrecht gehalten, d.h. besonders gefährdete Personen sollen, wenn immer möglich, von zu Hause aus arbeiten.
- In Abänderung der ursprünglichen Regelung wurde Art. 10c Abs. 2 VO am 20.03.2020 neu formuliert. Für diejenigen Arbeitstätigkeiten, die aufgrund der Art der Tätigkeit oder mangels realisierbarer Massnahmen nur am üblichen Arbeitsort erbracht werden können (z.B. Detailhandel, Reinigung, Pflege), hat man ein neues Kriterium eingeführt. In diesen Fällen ist der Arbeitgeber verpflichtet, „mit geeigneten organisatorischen und technischen Massnahmen die Einhaltung der Empfehlungen des Bundes betreffend Hygiene und sozialer Distanz sicherzustellen“ (Art. 10c Abs. 2 VO2).
Dazu ein Auszug aus den Erläuterungen des Bundes (Stand: 24.03.2020): “Dafür können beispielsweise im Detailhandel Plexiglasscheiben zum Schutz des Kassenpersonals aufgestellt werden; auch sind wo zweckmässig den Mitarbeitern Desinfektionsmittel zur Verfügung zu stellen. Auch können für besonders gefährdete Personen andere zumutbare Arbeitsbereiche oder -felder zugewiesen werden, etwa Arbeiten im Backoffice-Bereich.“
Mit andern Worten: Sofern der Arbeitgeber die Einhaltung dieser Massnahmen gewährleisten kann, steht einer weiteren Ausübung der Tätigkeit am üblichen Arbeitsort grundsätzlich nichts im Weg. Aber auch hier – so die Erläuterungen des Bundes – sind Arbeitgeber und Arbeitnehmende aufgerufen, sich flexibel auf praktikable und im Interesse der Gesundheit und der Betriebsinteressen stehende Lösungen einzulassen. - Ist im konkreten Fall kein „Homeoffice“ möglich und sind auch die in Art. 10c Abs. 2 VO2 geforderten Schutzmassnahmen nicht umsetzbar, werden besonders gefährdete Arbeitnehmer vom Arbeitgeber unter Lohnfortzahlung beurlaubt (Art. 10c Abs. 3 VO2).
Was bedeutet das in der Praxis?
Mit Art. 10c Abs. 3 VO 2 wird in Ergänzung zu Art. 324 und 324a OR eine weitere Ausnahme von der Grundregel „Ohne Arbeit kein Lohn“ geschaffen. Bei den absehbaren Diskussionen darüber, ob Homeoffice möglich sei oder nicht, sind sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber gefordert. Unserer Ansicht nach sollte Homeoffice bei vorhandenen technischen Möglichkeiten immer dann möglich sein, wenn die Arbeit nicht ortsgebunden ist oder nur mit speziellen Vorrichtungen ausgeübt werden kann, die zuhause nicht verfügbar sind. Arbeitnehmer werden gebeten, Augenmass zu bewahren und so viel wie möglich dazu beizutragen, dass der Betrieb des Arbeitgebers möglichst uneingeschränkt weiterlaufen kann. Denn:
Der Arbeitgeber hat für die Dauer der Gültigkeit der VO2 eine zeitlich unlimitierte 100%-ige Lohnfortzahlung zu leisten, ohne dass er eine Arbeitsleistung erhält. Diese Verpflichtung kann insbesondere kleinere Unternehmungen, denen derzeit in vielen Fällen die Einnahmen fehlen, rasch in ihrer Existenz bedrohen.
Aufgrund der Formulierung „beurlaubt“ könnte man auf die Idee kommen, die betroffene Person müsse (vorhandenes) Ferienguthaben beziehen. Diese Auslegung dürfte kaum im Sinne des Verordnungsgebers sein, der hier redaktionell wenig präzis war. Anstatt von „beurlauben“ sollte man besser von „dispensieren“ sprechen. Nichts desto trotz wird in der Lehre aufgrund der zur Zeit vorliegenden, ausserordentlichen Lage davon ausgegangen, dass auch eine kurzfristige Anordnung von Ferienbezug zulässig sein soll.
Ergänzend sei noch festgehalten, dass die ebenfalls am 20.3.2020 erlassene Covid-19-Verordnung-Erwerbsausfall an der Rechtslage nichts ändert. Zwar sieht Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung bei einem Unterbruch der Erwerbstätigkeit „infolge Quarantäne“ einen Maximalanspruch von 10 Taggeldern vor, doch ist diese Leistung subsidiär zu Lohnfortzahlungen des Arbeitgebers (Art. 2 Abs. 4). Somit erübrigt sich auch eine nähere Prüfung der Frage, ob die „Beurlaubung“ i.S. von Art. 10c Abs. 3 VO2 einer Quarantäne gleichzusetzen wäre.
Ärztliches Attest
Die Verordnung sieht vor, dass die Betroffenen ihre Gefährdung durch eine „persönliche Erklärung” geltend machen. Der Arbeitgeber wird dies in der Regel akzeptieren, wenn er über den Gesundheitszustand der betroffenen Person ohnehin schon Bescheid weiss. Dies ist übrigens häufiger der Fall, als man glaubt. Was geschieht aber, wenn der Arbeitgeber durch die Selbsterklärung des Arbeitnehmers überrascht wird und überprüfen möchte, ob jemand tatsächlich zum Kreis der besonders gefährdeten Personen gehört?
Macht ein Arbeitnehmer geltend, er gehöre zu den besonders gefährdeten Personen, steht dem Arbeitgeber die in Art. 10c Abs. 4 VO2 vorgesehene Möglichkeit offen, ein „ärztliches Attest” zu verlangen. Es ist anzunehmen, dass die Arbeitgeber davon rege Gebrauch machen werden. Inhaltlich ist allerdings lediglich die Information zulässig, ob jemand als „besonders gefährdete Person” i.S. von Art. 10b Abs. 2 VO2 einzustufen ist oder nicht. Aufgrund des Persönlichkeitsschutzes besteht kein Anspruch auf nähere Informationen zum Gesundheitszustand des Arbeitnehmers oder genauere Angaben zur Erkrankung.
Ärztliches Attest vs. Arbeitsunfähigkeitszeugnis
Etwas unglücklich ist in unseren Augen die gewählte Bezeichnung „ärztliches Attest“, da mit diesem Begriff normalerweise ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis assoziiert wird. Das ärztliche Attest gemäss Art. 10c Abs. 4 VO2 ist jedoch kein Arbeitsunfähigkeitszeugnis, sondern lediglich eine Bestätigung der Zugehörigkeit zum Kreis der „besonders gefährdeten Personen“. Damit handelt es sich aber lediglich um einen Arbeitsdispens ausserhalb von Homeoffice und nicht um eine medizinisch begründete Arbeitsunfähigkeit.
Erste Rückmeldungen haben gezeigt, dass die Ärzte diese Unterscheidung noch nicht immer berücksichtigen und im ärztlichen Attest (zusätzlich) auch eine Arbeitsunfähigkeit bestätigen, vermutlich ohne dass eine solche vorliegt. Die Prüffrage hier wäre nach unserer Auffassung:
„Wäre der (besonders gefährdete) Patient ohne Corona-Pandemie in seiner angestammten Tätigkeit arbeitsfähig?“ Wenn ja, gibt es ein „ärztliches Attest“, wonach er zum Kreis der besonders gefährdeten Personen gehört. Wenn nein, wird ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis ausgestellt.
Lohnfortzahlung vs. Krankentaggeldleistungen
Krankentaggeldversicherungen definieren die Arbeitsunfähigkeit in Anlehnung an Art. 6 ATSG regelmässig als „die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten.“ Diese Definition deckt sich ganz offensichtlich nicht mit den Gründen, die zum Arbeitsdispens aufgrund der besonderen Gefährdungslage führen. Deshalb gilt ganz grundsätzlich: Vorsicht, die Krankentaggeldversicherungen müssen für die Lohnfortzahlung aufgrund des Arbeitsdispens gemäss Art. 10c Abs. 3 VO2 u.E. nicht aufkommen. Arbeitgeber sollten dies im Hinblick auf ihre Liquiditätsplanung im Blick behalten, Arbeitnehmer indessen auch und im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles daran setzen, um zur Schadenminderung beizutragen.
Die Versuchung ist daher relativ gross, diese Risiken mit einem gewöhnlichen Arbeitsunfähigkeitszeugnis (alias einer Krankschreibung) umgehen zu wollen. Man bedenke dabei aber die folgenden beiden Punkte:
- Zunächst werden damit Personen „krank geschrieben“, die medizinisch gesehen gar nicht arbeitsunfähig sind. Die Gefahr, dass „besonders gefährdete Personen auch nach dem Ende der Pandemie weiterhin arbeitsunfähig (geschrieben) bleiben, ist nicht zu unterschätzen. Immerhin leiden alle diese Personen an einer Erkrankung, und solange sich der Gesundheitszustand nicht verbessert, ist ein Wiedererlangen der Arbeitsfähigkeit kein Selbstläufer. Diese Entwicklung ist weder für den Arbeitnehmer noch für den Arbeitgeber noch für die Gesamtwirtschaft anzustreben.
- Darüber hinaus werden sich die Krankentaggeld-Versicherer mit einer beträchtlichen Anzahl von Fällen herumschlagen müssen, die versicherungsrechtlich gesehen „unberechtigt“ sind, da eine eigentliche Arbeitsunfähigkeit fehlt. Angesichts der Schadenswelle, die wohl auch auf die Krankentaggeld-Versicherer zurollt, ist damit zu rechnen, dass solche «Arbeitsunfähigkeiten» genaueren Prüfungen unterzogen und die Leistungspflicht abgelehnt werden wird. Dann fallen die Kosten für die Lohnfortzahlung auf die Arbeitgeber zurück, die damit möglicherweise nicht gerechnet haben.
Fazit: Besonders gefährdete Personen richtig einordnen
Es ist Zurückhaltung, Grosszügigkeit, Fürsorge und Augenmass angezeigt, wenn es um besonders gefährdete Personen geht:
- Zurückhaltung der Arbeitnehmer bei ihren Selbsterklärungen. Nutzen Sie die Situation nicht aus. Unberechtigte Gefährdungsmeldungen stellen für Arbeitgeber ein unschätzbares Risiko dar. Helfen Sie mit, wo Sie können. Individualinteressen sollten – ausser in den in der Verordnung definierten Fällen von besonderer Gefährdung – hinter die allgemeinen Interessen am Erhalt unseres Wirtschaftssystems zurücktreten.
- Grosszügigkeit bei der Beurteilung der Frage, inwieweit Homeoffice möglich sei. Bereitschaft der Arbeitnehmer, Aufgaben zu übernehmen, die normalerweise zwar nicht zu den Aufgaben des Arbeitnehmers gehören, von ihm vom Homeoffice aus aber erledigt werden können. Und zwar unabhängig von den Vorgaben des Arbeitsvertrages.
- Fürsorge und besondere Sorgfalt bei der Prüfung und Umsetzung der organisatorischen und technischen Massnahmen, um die Einhaltung der Empfehlungen des Bundes betreffend Hygiene und sozialer Distanz sicherzustellen. Die „besonders gefährdeten Personen“ sollen vor Infektionen geschützt werden, damit potenziell gravierende Erkrankungsfälle und Engpässe in der Gesundheitsversorgung vermieden werden können. Im Zweifelsfall soll unseres Erachtens der Arbeitsdispens gewählt werden.
- Augenmass seitens der Ärzte in Sachen ärztliche Atteste und Arbeitsunfähigkeitszeugnis- se. Erstens müssen sich Ärzte dieser grundlegenden Unterscheidung und unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen bewusst sein. Krankschreibungen wegen der besonderen Gefährdung gemäss Art. 10b Abs. 2 V2, obwohl keine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, können zudem dazu führen, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in falscher Sicherheit wiegen und von der Deckung des Lohnfortzahlungsanspruchs durch die Versicherung ausgehen. Wenn ein solcher Anspruch dann abgelehnt und die gesamte – aufgrund von Art. 10c Abs. 3 VO2 zeitlich nicht bzw. auf den Zeitraum der ausserordentlichen Lage limitierte – Dauer auf den Arbeitgeber zurückfällt, kann das ein Unternehmen finanziell in den Ruin treiben.
Autoren:
RA Astrid Lienhart ist Fachanwältin SAV Arbeitsrecht und neben ihrer Arbeit als Anwältin in der Kanzlei Rechtskraft in Zürich als Autorin und Referentin tätig. RA Kurt Mettler ist Geschäftsführer der SIZ AG, welche auf Care Management spezialisiert ist. Beide pflegen seit Jahren einen intensiven Austausch zu den schwierigen Fragen rund um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.