«Das Design muss bereits den Rückbau mitberücksichtigen»
Kreislaufwirtschaft ist in aller Munde und hat auch die Baubranche erreicht. Auf dem Empa-Areal setzt man entsprechende Akzente. Mit im Boot ist auch die Wirtschaft.
Die praxisorientierte Tüftelstube Nest, ein modulares Forschungs- und Innovationsgebäude der Empa und der Eawag in Dübendorf, hat vor ein paar Wochen die neue Unit Sprint in Betrieb genommen. Wie in den übrigen Wohn- und Arbeitsplattformen des Innovationsgebäudes werden neue Technologien, Materialien und Systeme unter realen Bedingungen getestet und weiterentwickelt. Unter realen Bedingungen heisst, dass in den Units Menschen aus Fleisch und Blut eine Zeit lang leben. Denn nur so finden das Forscherteam und die mit ihren Innovationen anwesenden Unternehmen heraus, wie praxistauglich eine bestimmte Anwendung ist.
Wie die Kreislaufwirtschaft funktioniert, zeigt bereits die Unit Urban Mining & Recycling, kurz Umar. Sie demonstriert, wie ein verantwortlicher Umgang mit den natürlichen Ressourcen und einer ansprechenden Architektur kombiniert werden kann. Dieser Unit liegt laut den Verantwortlichen die These zugrunde, dass alle zur Herstellung eines Gebäudes benötigten Ressourcen vollständig wiederverwendbar, wiederverwertbar oder kompostierbar sein müssen. Eine grosse Herausforderung für die Bauwirtschaft und ihre Zulieferer, die meist noch Meilenschritte vom Kreislaufgedanken entfernt wirtschaften.
Bei der Unit Sprint im Innovationsgebäude handelt es sich um eine Bürolandschaft. Sie lebt ausschliesslich vom Rückbau, also der Wiederverwendung von Materialien und Bauteilen. «Der Bestand an wiederverwendbaren Materialien sowie das Re-Use-Potenzial in der Industrie sind gross und müssen nur genutzt werden», betont Enrico Marchesi von der Empa. Er sagt bei einem Augenschein vor Ort, was Sache ist.
Die Nest-Unit Sprint will neue Massstäbe für kreislaufgerechtes Bauen setzen. Damit das Prinzip Re-Use im Alltag funktioniert, müssen die Baufachleute die konventionelle Planung auf den Kopf stellen.
Enrico Marchesi, Innovation Manager Nest, Empa: Planung ist ein Schlüsselwort im Zusammenhang mit Re-Use. Wer Materialien oder Bauteile verwenden will, die bereits einmal verbaut waren, muss früh im Projekt mit der Re-Use-Planung beginnen, denn das hat Auswirkungen auf Konstruktion und Materialisierung. Ein Beispiel: Wir wussten bereits im Vorfeld, dass wir für die Unit Sprint genügend Alufenster von einem Hochhaus in Zürich Altstetten erhalten werden. Ausgehend von diesen wiederverwendbaren Fenstern, hat das Architekturbüro die Fassadenentwürfe darauf abgestimmt. Das heisst, Bauherren, Planer und Architekten müssen bei einem Re-Use-Gebäude umdenken. Die Frage nach den verfügbaren Materialien und Bauteilen aus Rückbauten stehen im Vordergrund. Der Rest muss darauf abgestimmt werden.
Die Online-Plattform Madaster arbeitet mit einem Materialpass, der zeigt, welche Komponenten und Produkte in einem Gebäude verbaut wurden. Ist das die Lösung für kreislaufgerechtes Bauen?
Ja, und dies nicht nur für Bauten wie die Unit Sprint, sondern weltweit. Es existiert bekanntlich das Konzept der urbanen Mine. Unsere Dörfer und Städte sind eine riesige Lagerhalle. Da müssen wir unsere zukünftigen Ressourcen hernehmen – und zwar bei jedem Rückbau. Madaster, ein Kataster für Materialien oder so etwas wie ein Online-Grundbuch, verwaltet dieses Materiallager mit seinem unschätzbaren Wert.
Schön und gut, aber nicht jedermann hat Freude an Boden- und Wandplatten aus den 1950er- oder 60er-Jahren. Sind Design und Farbe nicht ein grosses Hindernis für den Wiederverwendungsgedanken?
Es braucht zugegebenermassen Flexibilität in der Gestaltung. Der Planer muss sich bewusst sein, dass das gefundene oder vorhandene Material teilweise das finale Design bestimmt. Doch dadurch können auch sehr spannende Lösungen entstehen, wie unsere Büroeinheit Sprint zeigt. Den Fenstern, der Decke und dem Massivholzparkett sieht man zwar an, dass sie gebraucht sind. Wir haben den Boden bewusst so belassen – man hätte ihn auch aufbereiten können, dann sähe er wie neu aus.
Wie gesagt, für unsere Wohn- und Büroeinheiten Urban Mining & Recycling sowie Sprint haben wir ausschliesslich Recyclingmaterial oder wiederverwendete Bauteile eingesetzt. Das bedeutet aber nicht, dass man dies bei einem konventionellen Gebäude auch zu hundert Prozent so umsetzen muss. Es bringt schon viel, wenn nur ein Teil aus rezyklierten und wiederverwendeten Bauteilen besteht.
Ihr Konzept verlangt nach einem besseren Rückbau von Gebäuden.
Das ist definitiv so. Jedes Gebäude von heute könnte man technisch gesehen sortenrein zerlegen. Ökonomisch geht das natürlich nicht, weil man nicht nach dem Prinzip «Design for Disassembly» gebaut hat. Darunter versteht man ein Design, das bereits den Rückbau mitberücksichtigt. Mehr noch: Nötig ist eine Bauweise, die zukünftige Änderungen und Demontagen zur Rückgewinnung von Systemen, Komponenten und Materialien erleichtert. So kann sichergestellt werden, dass Gebäude und deren Bestandteile am Ende ihrer Lebensdauer so effizient wie möglich in einen weiteren Zyklus überführt werden können. Zukünftige Gebäude müssen nach diesem Prinzip gebaut werden.
Welche Materialien und Bauteile kann oder sollte man nicht wiederverwenden?
Sind die Baumaterialen eines Rückbaus mit gefährlichen Substanzen kontaminiert, gehören sie in die Entsorgung. Ansonsten kann man grundsätzlich alle Bauteile erneut einsetzen: Entweder man bereitet sie so auf, dass sie in ihrer bisherigen Form wieder verbaut werden können oder führt sie in den Recyclingprozess. Ich spreche von Recycling und nicht von Downcycling, was heute leider noch häufig der Fall ist; der Sekundärrohstoff darf also nicht von minderer Qualität sein. Diesbezüglich hat die Industrie ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht und muss sich beeilen, will sie in Zukunft noch am Markt bestehen.
Ein solches Umdenken bringt auch neue Businessmodelle mit sich. Teppiche zum Beispiel haben immer ein Ablaufdatum. Es existieren bereits Firmen, die rezyklierfähige Teppiche entwickelt haben. Mehr noch: Der Kunde kann sie nur leasen. Wir haben in der Unit Umar einen solchen Teppich. Nach Datumsablauf will die Firma den Rohstoff zurück. Das ist eine schlaue Idee.
Technische Anwendungen veralten meist rasch. Wie sieht es hier mit dem Re-Use-Prinzip aus?
Das muss individuell angeschaut werden. Es kann sein, dass ein Produkt derart veraltet ist, dass es zum Raster herausfällt. Wir hatten zum Beispiel für Sprint eine Gebrauchtlüftung nachrüsten lassen – ihr wurde ein zweites Leben eingehaucht. Auch bei technischen Geräten muss ich an die Industrie appellieren, ihre Produkte so zu konstruieren, dass sie sinnvoll zerlegt werden können. Wie gesagt, längerfristig zwingt uns die Ressourcenverknappung dazu.
Momentan ist Baumaterial schwierig lieferbar. Das Problem hatten Sie bei Sprint nicht.
…nur mussten wir manchmal etwas länger suchen, bis wir das passende Altmaterial gefunden hatten. Doch Sie haben recht: Wir wollten zum Beispiel eine Heiz- und Kühldecke einbauen. Hätten wir eine neue gewollt, wir hätte innert nützlicher Frist keine erhalten, denn der Markt ist komplett ausgetrocknet. Im Fall von Sprint haben wir eine gebrauchte Akustikdecke aufgetrieben, die uns der Lieferant zur Heiz- und Kühldecke nachgerüstet hat. Ein schönes Beispiel für ein Upgrade.
Bei welchen Baumaterialien sehen Sie das grösste Potenzial für den erneuten Einsatz?
Reines Re-Use von Baumaterialien kann nur einen bestimmten Teil des Marktes abdecken. Doch beim Urban Mining und Recycling sehe ich für die Industrie interessante Möglichkeiten. Aus den Sekundärrohstoffen können verschiedenste Produkte hergestellt werden. Wiederverwendung könnte interessant werden im Bereich alter Böden, Fenster oder Materialien, die eine optische und haptische Qualität aufweisen. Auch bei Konstruktionsholz, das nicht verwittert ist, sehe ich eine Nachfrage.
Das Re-Use-Prinzip verändert die Wertschöpfungskette.
Klar, zum Beispiel wird es eine Rückverschiebung geben – Handwerk ist auf einmal wieder gefragt. Wenn Re-Use-Materialien erneut verbaut werden, braucht es vermehrt handwerkliche Fähigkeiten. Wie sieht die CO2- und Energiebilanz aus, wenn man nach Re-Use baut? Die genaue Lebenszyklusanalyse von Sprint wird derzeit gemacht, genaue Daten kann ich Ihnen noch nicht liefern. Doch nur so viel: Die Umweltbilanz ist beim Einsatz gebrauchter Baumaterialien auf jeden Fall besser als beim konventionellen Bau, denn die Neuproduktion, die viel Energie benötigt, fällt bekanntlich weg. Nicht unbedingt besser sieht die CO2-Bilanz aus, wenn man gebrauchte Bauteile in der halben Welt herumtransportiert. Sie sollten also möglichst aus regionalen Quellen stammen.
Ein Gebäude wie die Sprint-Unit müsste eigentlich günstiger sein.
Die Baukosten für den Materialanteil sinken beim Re-Use-Prinzip grundsätzlich. Doch der Aufwand für die Suche und Aufbereitung der Sekundärbauteile ist nicht gratis zu haben, gerade in einem Land wie der Schweiz mit hohen Arbeitskosten. Das ist Stand heute. Doch der junge Wirtschaftszweig ist noch nicht optimiert. Das wird früher oder später kommen, schliesslich werden unsere Ressourcen immer knapper, ergo auch teurer. Deshalb führt kein Weg an der Kreislaufwirtschaft vorbei, sei das nun in Form des Re-Use-Prinzips oder mit sauberem Recycling.
Re-Use-Material bauakustisch getestet
Forschende der Empa haben die eigens für Sprint konzipierte Teppichtrennwand (siehe Bild oben) im Akustiklabor auf Luftschalldämmung geprüft. Mit mehreren Messungen wurde untersucht, wie die Teppichfliesen für eine optimale Schalldämmung gefaltet sein müssen. Im besten Fall erreichten die Forschenden eine Schalldämmung von 26 Dezibel, wie die Empa schreibt. Das bedeutet: Die Teppichwand als Raumtrenner erreicht eine wesentlich bessere akustische Dämmung als beispielsweise mobile Stellwände in Gruppenbüros. Das Ergebnis zeigt laut Empa, dass die kreislaufgerechte Trennwand überall dort Potenzial hat, wo Gebäude flexibel oder gar nur auf Zeit gestaltet werden, etwa bei modernen Zwischennutzungen.
Weitere Themen:
Cradle to Cradle: Wie man sich Rohstoffe sichert
Der Beitrag «Das Design muss bereits den Rückbau mitberücksichtigen» erschien zuerst auf Umwelt Perspektiven.