„Es gäbe viel mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap“

Das Forum.Integration im Pfalzkeller vom 12. März 2018 will die Hürden und Erfolgsfaktoren für Menschen mit Handicap auf dem Weg ins Berufsleben aufzeigen. Auf dem Podium: Reto Gnägi. Sein Consultingunternehmen beschäftigt einen kaufmännischen Angestellten mit Handicap. Verliehen wird wieder der Ostschweizer Integrationspreis.

Beschäftigt seit 2016 einen Menschen mit Handicap. Sein Consultingunternehmen übernimmt Stellvertretungen auf Sozialämtern: Reto Gnägi, Mitinhaber RGB Consulting, Degersheim. (Foto: zVg / mw)

Die Firma RGB Consulting in Degersheim und Gossau bietet neben der klassischen Treuhändertätigkeit Dienstleistungen im Beratungs- und Sozialbereich, so zum Beispiel Springereinsätze bei Vakanzen auf allen Gemeindeabteilungen. Mitinhaber Reto Gnägi (siehe nachfolgendes Interview) ist Podiumsteilnehmer am Forum.Integration im Pfalzkeller vom 12. März 2018. Dieser Anlass wird von Dreischiibe, Procap, Profil – Arbeit & Handicap und Obvita sowie Suva bereits zehnten Mal organisiert. Das Forum will Arbeitgeber bei der Integration von Menschen mit Handicap sensibilisieren und Best-Practice-Beispiele aufzeigen, wie das Schaffen und Erhalten von Arbeitsplätzen für Mitarbeitende mit körperlichen und psychischen Behinderungen gelingt. Unterstützt wird das Forum von Migros Kulturprozent, Die Post, SVA St. Gallen, Gewerbe St.Gallen, Wirtschaft Region St.Gallen, Bühler Group, Raiffeisen, Schweizerischer Arbeitgeberverband und IHK St.Gallen-Appenzell.

Reto Gnägi, wie kam es zur Anstellung Ihres Mitarbeiters mit Handicap?

Reto Gnägi: Obvita, die Organisation des Ostschweizerischen Blindenfürsorgevereins, kam auf uns zu. Michael Binkert hatte dort eine KV-Lehre absolviert. Der junge Mann hatte ursprünglich Maschineningenieur studiert, wurde wegen eines Hirntumors operiert und musste sich Chemotherapien unterziehen. Nach der Operation verfügt er nur noch über einen Sehrest von zehn Prozent. Nach der Umschulung ging es darum, seine Leistungsfähigkeit im ersten Arbeitsmarkt zu beurteilen.

Wieso stellten Sie ihn schliesslich fest an?

Nach dem Praktikum bei uns bewarb er sich erfolglos. Da fanden wir, es würde uns gut anstehen, auch einmal eine Integration zu versuchen. Wir sind selber im Sozialbereich tätig, etwa indem wir auf Sozialämtern Einsätze leisten und dort Einzelfälle betreuen (s. unten) Seit etwas über einem Jahr ist Michael Binkert jetzt bei uns festangestellt. Er wird im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit entlöhnt. Die IV finanziert dazu.

Sonst klärt die IV die Leistungsfähigkeit ab.

Richtig. Aber wir sind näher an den Gegebenheiten auf dem ersten Arbeitsmarkt dran und konnten die Leistung besser objektivieren. Die IV möchte dieses Vorgehen institutionalisieren. Es bildete sich ein neues, praxisbezogenes Vorgehen heraus.

Sie wurden von Obvita gecoacht.

Ja. Obvita stellte die Hilfsmittel bereit – etwa das Gerät, das unserem Mitarbeiter die Dokumente vorliest. Wir erhielten Brillen, anhand deren wir uns vorstellen können, wie unser Mitarbeiter die Umwelt wahrnimmt. Wichtig ist die Unterstützung bei der Betreuung – wie man mit einem Menschen mit Handicap umgeht, wenn es einmal nicht so rund läuft. Dazu fanden jeweils Standortgespräche statt.

Es gab Stolpersteine?

Unser Mitarbeiter musste sich nochmals einer Operation und weiteren Bestrahlungen unterziehen, die ihn zurückwarfen. Er ist teilweise sehr müde und leidet an Migränen, so dass er nicht arbeiten kann. Das Team benötigt Einfühlung, etwas Geduld und Sozialkompetenz. Diese Dinge verlange ich von den Mitarbeitenden auch sonst.

Können Sie den Aufgabenbereich Ihres Mitarbeiters umschreiben?

Er erledigt die ganze Post, ist mit der Buchhaltung betraut, verfasst Arbeitsrapporte und Korrespondenz. Sein Portfolio entspricht dem eines normalen KV-Angestellten. Unterschiede bestehen allein bei der Leistungsfähigkeit.

Stellten sich Bereiche heraus, wo er besonders gut ist?

Wir erwarteten, dass der Gang auf die Post viel schwieriger sei. Auch den Umgang mit den Digitalgeräten, etwa dem Kopierer, bewältigt er sehr gut, obwohl er fast blind ist. Und er findet sich in unseren Büros sehr gut zurecht, obwohl sie auf drei Stockwerke verteilt sind.

Wie beurteilen Sie die Situation heute?

Michael Binkert hat eine hohe Zufriedenheit. Bis die IV entschieden hatte, wusste unser Mitarbeiter nicht, wie er finanziell steht. Dies war sehr belastend. Dass er zuerst in den Berufszielen zurückgeworfen wurde und danach bei der Stellensuche erlebte, dass ihn niemand braucht, konnten wir mit Wertschätzung auffangen. Er blühte auf und gewann wieder an Selbstbewusstsein. Unser Mitarbeiter ist heute voll ins Team integriert und wird auch so wahrgenommen.

Wie steht es um Ihre Zufriedenheit?

Wir können mit einem Menschen, der das durchgemacht hat, im Massstab eins zu eins zusammenarbeiten. Im Sozialbereich sind wir immer mit Menschen mit solchen Schicksalen konfrontiert. Unsere Erfahrung können wir jetzt dort weitergeben. Wir sind authentischer.

Es braucht Goodwill für eine berufliche Integration.

Unsere Haltung erfordert keine besondere Bewunderung. Andere führen für solche Erfahrungen Teambildungen durch. Es sind Dinge, die sich nicht materiell messen lassen. Wir haben das Gefühl, wir erfüllen auch eine gesellschaftliche Aufgabe.

Dennoch gibt es noch zuwenig berufliche Integration.

Der Bedarf ist grösser als die Angebote. Teilweise wird auf Integration wegen Vorurteilen verzichtet. Es wird befürchtet, jemanden entlassen zu müssen, wenn es nicht funktioniert. Wir betrachten es anders. Wenn man Personen mit Handicap vermehrt integrieren würde, gibt man ihnen viel zurück, sie einem aber auch. Es ist dann wirklich eine Win-win-Situation.

Wie liessen sich Arbeitgeber vermehrt zur beruflichen Integration motivieren?

Anfangs braucht es das Coaching und die Betreuung einer Fachorganisation, um offene Fragen und Schwierigkeiten zu diskutieren und auszuräumen. Dann wären viel mehr solche Arbeitsplätze vorhanden und realisierbar, als man denkt.

Ohne Branchenunterschiede?

Wo jemand arbeiten kann, hängt von der Behinderung ab. Nicht alle Branchen sind gleich, und nicht alle sind für Personen mit allen Handicaps geeignet. Aber in jeder Branche gibt es Möglichkeiten – einfach nicht für dieselben Betroffenen.

Weitere Informationen:

Forum.Integration im Pfalzkeller, „Einstieg in das Berufsleben – Praxisbeispiele zeigen Hürden und Erfolgsfaktoren für Menschen mit Beeinträchtigungen“, Montag, 12. März 2018, 18 bis 20 Uhr. Anmeldung: www.forumimpfalzkeller.ch oder info@forumimpfalzkeller.ch

Vier aktuelle Filmporträts geben am Forum einen Einblick in die Situation von Menschen mit Handicap an ihrem Arbeitsplatz. Vergeben wird auch zum zweiten Mal der Ostschweizer Integrationspreis. Nominiert dafür sind die Alterssiedlung Kantengut, Chur, das Alterszentrum Am Schäflisberg, St.Gallen, die Bäckerei-Konditorei Beck Beck, Wittenbach, die Gemeinde Herisau (Technische Dienste, Feuerwehr), die Genossenschaft Migros Ostschweiz, das Hotel Wolfensberg, Degersheim, die Kliniken Valens, Valens, die Reha Seewis, Seewis Dorf, sowie die Werkhalle Schmid, AG, Schwellbrunn, Laudator ist Regierungsrat Martin Klöti. Moderiert wird die Veranstaltung vom langjährigen SRF-Bundeshausredaktor Hanspeter Trütsch. mw.

Zum Autor:

Michael Walther ist Journalist in Wattwil SG.

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