Risiken bewerten: Bereit für das Unerwartete?
Mit der Lockerung des Lockdown nimmt unser Leben ganz langsam wieder an Fahrt auf. Gleichwohl dürfte sich durch die Pandemie in Wirtschaft und Gesellschaft einiges ändern. Dazu gehört auch, wie wir Risiken bewerten und damit umgehen.
Jedes Jahr führen namhafte Institutionen Umfragen und Analysen durch, um die Stimmungen im wirtschaftlichen Umfeld zu untersuchen. Ein spezieller Fokus liegt auf Risiken, mit denen sich Unternehmen am meisten konfrontiert sehen. Zudem werden Risiken identifiziert, die im folgenden Geschäftsjahr besonders besorgniserregend erscheinen. Diese Einschätzungen werden gern zu Top-10 Risiken verdichtet, damit Medien, die Rankings lieben, sie aufgreifen und kommentieren. Schaut man sich die Studien 2019 mit Blick auf 2020 an, wundert man sich. Insgesamt identifizierten Wirtschaftsführer und andere Experten eine Reihe von Top-Risiken. An erster Stelle Cyber Risiken, Regulierungsänderungen, ungünstigen Marktentwicklungen, Fachkräftemangel oder politische Risiken – aber keine Pandemie.
Die Pandemie traf uns unerwartet
Weder das globale Risiko-Barometer der Allianz oder das weltweit tätige Business Continuity Institut noch die globale CEO-Umfrage von PwC oder die ebenfalls weltweit ausgerichtete Risiko-Umfrage der US-Universität North Carolina mit dem Beratungsunternehmen Protiviti hatten eine Pandemie auf dem Radar. Einzig im Global Risks Report des World Economic Forums (WEF) kommt eine Pandemie am Rande vor. Deren Auswirkungen schafften es aber «nur» auf Rang 10 aller Risiken. Und weil die Eintrittswahrscheinlichkeit als sehr gering eingestuft wurde, beleuchteten die Studien-Autoren dieses Risiko nicht näher. Auch im Funk Global Risk Consensus der Funk Gruppe, in welchem die Ergebnisse zahlreicher Risikostudien zur Vermeidung von Verzerrungen konsolidiert werden, war die Pandemie als ein Top-Risiko nicht erkennbar.
Dass das dieses auf breiter Front «übersehen» wurde, wirft vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse ein paar Fragen auf. Zumal das Pandemie-Risiko in den genannten Studien vor einigen Jahren viel stärker gewichtet wurde. Dies war immer nach einem unmittelbaren Ereignis der Fall (Schweine- und Vogelgrippe oder SARS und Ebola). Mit jedem weiteren Jahr nach den Ereignissen wurde auch die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser immer niedriger eingeschätzt.
Psychologische Effekte verzerren die Risikowahrnehmung
Dieser Urteilsfehler ist das Ergebnis psychologischer Effekte. Statt von Statistiken, lassen wir uns vielmehr von medienwirksamen Ereignissen leiten und nehmen die Welt verzerrt wahr. Darum haben wir grössere Angst, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen als bei einem Autounfall, obwohl nachweislich mehr Menschen im Strassenverkehr als bei einer Flugreise sterben. Zudem setzt die kollektive Vergesslichkeit schneller ein, wenn man von einem Schadenereignis nur am Rand betroffen war. Auch Experten sind davor nicht gefeit. Die Risikostudien bilden also primär eine «aktuelle» bzw. medial vermittelte Risikolage ab. Latente Risiken fallen so eher vom Radar. Umso grösser ist die Überraschung, wenn dann das Ereignis tatsächlich eintritt.
Alles was schiefgehen kann, wird schiefgehen
Die Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit ist eine der grössten Herausforderungen des Risikomanagements. Sie sind oft subjektiv, scheingenau und führen meist zur Unterschätzung von Risiken mit hohen Auswirkungen. Ob eine Eintrittswahrscheinlichkeit eines Risikos als klein beurteilt wird oder ob man sich unbeirrt davon zweckmässig darauf vorbereitet, macht einen grossen Unterschied. Insofern bedarf es eines Umdenkens und der Einsicht, dass wir nicht alles prognostizieren können. Im Rahmen der unternehmerischen Möglichkeiten sollten wir uns dennoch auf bestimmte Eventualitäten vorbereiten und jene Risiken im Auge behalten, die – wie eine Pandemie – globale Auswirkungen haben, aber potenziell unterschätzt werden, weil sie als unwahrscheinlich taxiert werden.
Zum Beispiel der Unterbruch des Internets oder der Ausfall der Kommunikationsinfrastruktur. Zwei Risiken, die vor den Hintergrund des aktuellen Digitalisierungssprungs an Bedeutung gewinnen. Aber auch ein Stromausfall in den grössten Wirtschaftszentren der Welt, ein globaler Schädlingsbefall oder der Ausbruch eines Supervulkans sind Risiken, die nirgends erscheinen. Ob es einem gefällt oder nicht: Insgesamt werden wir Risikoaspekte bei unternehmerischen und gesellschaftlichen Entscheidungen verstärkt berücksichtigten müssen, um bewusster zu entscheiden, wie wir als Unternehmen oder Gesellschaft damit umgehen und wie wir uns dagegen wappnen wollen.
Risikomanagement wird auch für KMU immer wichtiger
Um KMU zu entlasten, wurden Unternehmen mit weniger als 40 Millionen Franken Umsatz oder weniger als 250 Vollzeitstellen im Jahr 2013 von der OR-Vorschrift befreit, eine Risikobeurteilung im Anhang der Jahresrechnung zu publizieren. Die Vorschrift war erst fünf Jahre davor eingeführt worden. In Deutschland geht man in Sachen Risikomanagement derweil einen Schritt weiter. Statt einer klassischen Risikobeurteilung gilt dort seit kurzem ein Revisionsstandard, welcher die Berücksichtigung von Risikoaspekten bei allen wichtigen unternehmerischen Entscheidungen vorgibt – so sollen Unternehmen auch für die Fälle vorsorgen, mit denen wirklich niemand rechnet.
Über den Autor
Max Keller studierte Volkswirtschaftslehre an der HfWU Nürtingen und schliesst aktuell den Master in Digital Business an der HWZ ab. Er leitet das vor drei Jahren gegründete Funk RiskLab der Funk Gruppe in der Schweiz. Neben Risikoberatung und Entwicklung neuer Tools analysiert sein Team die jährlich publizierten Risiko-Rankings namhafter Organisationen und fasst diese im Funk Global Risk Consensus zusammen. Folgende Studien werden ausgewertet: Allianz Risk Barometer: Befragung von 2700 Risikomanagement Experten in 102 Länder; Global Risks Report des WEF: Umfrage unter 800 Mitgliedern und zusätzlich eine Befragung von 200 Mitgliedern der Global Sharpers Community des WEF; Horizon Scan Report des Business Continuity Institute: Befragung von 9000 Mitglieder in mehr als 100 Ländern; CEO Survey von PwC: Auswertung von knapp 1600 Fragebogen aus über 80 Ländern; Executive Perspective on Top Risks, ein Projekt der North Carolina State University und dem Beratungsunternehmen Protiviti: Befragung von über 1000 Verwaltungsräten und CEOs weltweit.